Alberto Pincherle wurde als zweites von vier Kindern einer jüdisch-katholischen Familie in der via Giovanni Sgambati in Rom geboren. Der jüdische Vater Carlo, ein Architekt und Maler, stammte aus Venedig. Seine katholische Mutter, Teresa Iginia (Gina) De Marsanich, kam aus Ancona. Moravia – das lateinische Wort für Mähren – ist ein Pseudonym, das sich der Schriftsteller – in Anlehnung an den Familiennamen der Großmutter väterlicherseits – später zulegte. Im Alter von neun Jahren erkrankte Alberto Moravia an Knochentuberkulose; er verbrachte zwischen 1916 und 1925 die meiste Zeit in Sanatorien, u. a. zwei Jahre im Sanatorio Codivilla in Cortina d’Ampezzo. In diesen Jahren las er viel, u. a. die Werke von Giacomo Leopardi, Carlo Goldoni, J.N. Arthur Rimbaud, Molière, Giovanni Boccaccio, Alessandro Manzoni, William Shakespeare, Charles Dickens, Nikolai Gogol und Dostojewski.
Nach seiner Entlassung aus dem Sanatorium begann er 1925 mit den Aufzeichnungen seines Romans Die Gleichgültigen. Das Werk, das zum Debüt wurde, schildert das ereignisarme Leben der verwitweten Mariagrazia, ihres Liebhabers Leo und ihrer beiden gerade erwachsen gewordenen Kinder. Die beiden großen Themen, die alle nachfolgenden Werke bestimmen – die Macht von Sexus und Geld – sind hier schon angelegt. Die Teilnahmslosigkeit und Lethargie der Hauptpersonen bestimmen den Ton und die Stimmung des Buches. Dieser 1929 publizierte Roman, den Moravia auf eigene Kosten drucken ließ, war einer der ersten existenzialistischen Romane.
Schon 1927 hatte Moravia begonnen, seine ersten Erzählungen in der Zeitschrift '900 zu veröffentlichen. In den 1930er Jahren arbeitete er als Auslandskorrespondent für italienische Tageszeitungen. Aufgrund dieser Arbeit bereiste er Polen, die Republik China, Mexiko und die USA. 1936 lernte er die Schriftstellerin Elsa Morante (1912–1985) kennen, die er 1941 heiratete. Seine journalistischen Arbeiten brachten ihn jedoch bereits in den 1930er Jahren in Konflikt mit dem faschistischenRegime unter Benito Mussolini sowie dem Vatikan. Dies führte dazu, dass er Schreibverbot erhielt und seine Arbeit verlor. Er zog sich daraufhin nach Capri zurück, wo er zwischen 1941 und 1943 lebte. Dort begann er seine schriftstellerische Arbeit wieder aufzunehmen und rächte sich an dem Regime mit einer Satire über den Faschismus: La mascherata.
Während der Besetzung Roms durch die Deutschen im Jahr 1943 gerieten viele, darunter auch Moravia, in Lebensgefahr und flüchteten in die Berge der Ciociaria. Versteckt unter einfachen Menschen lebend, schrieb er an seinen nächsten Romanen, bis der Krieg beendet war.
Bald nach der Befreiung Italiens durch die Amerikaner erschien der Roman Agostino. Moravia zeichnet darin das Psychogramm eines dreizehnjährigen Jungen, der mit seiner geliebten Mutter die Ferien am Meer verbringt.
Nach dem Krieg nahm er die Arbeit als Journalist wieder auf, war Mitarbeiter des Corriere della Sera und schrieb vor allem Filmkritiken.
1947 erschien Die Römerin. Erstmals stand nun das Leben einer einfachen Frau aus der römischen Unterschicht im Mittelpunkt. Adriana wird schon als junges Mädchen von ihrer Mutter als Modell an zweitklassige Maler verkauft. Sie rebelliert jedoch nicht gegen ihr Schicksal. Die Themen dieses Romans – Sex, Suizid, Wertverlust – erregten Anstoß bei der katholischen Kirche. Sie setzte das Werk 1952 wegen Obszönität auf den Index. Noch im selben Jahr hatte Moravia den Premio Strega, einen bedeutenden italienischen Literaturpreis, für seine Erzählungen erhalten.
1953 gründete er mit Alberto Carocci die Zeitschrift Nuovi Argomenti, für die Moravia – zusammen mit seinem Freund Pier Paolo Pasolini – als Redakteur arbeitete.
1954 und 1959 legte Moravia die beiden Bände seiner Römischen Erzählungen vor. Pfiffige Gauner und notorische Pechvögel, Taschen- und Tagediebe, Kellner, Taxifahrer, Vorstadtmusiker und Filmstatisten, Hausmädchen, Blumenverkäuferinnen und Gelegenheitsprostituierte berichten von ihren vielfältigen Abenteuern. So ergibt sich ein Mosaik des römischen Lebens, und Moravia führt die niemals schmerzfreie Kunst des Überlebens nicht als Drama, sondern als Komödie vor.
Mit Die Langeweile (La noia) gelang Moravia 1960 noch einmal ein Welterfolg. Er variierte darin noch einmal das Thema der Gleichgültigkeit aus seinem ersten Roman. Doch Sexualität gibt es hier nicht mehr als Kommunikation zwischen zwei Menschen, sie wird vielmehr auf eine beziehungslose Triebhaftigkeit reduziert.[1]
Nach der Trennung von seiner Frau Elsa 1962 lebte er lange Zeit mit der Schriftstellerin Dacia Maraini (* 1936) zusammen. 1986 sorgte seine Heirat mit der um 47 Jahre jüngeren Spanierin Carmen Llera für Aufsehen. Er konnte nun wieder die Welt bereisen, doch sein Wohnsitz und seine stärkste Inspiration wurde Rom. Neben starken Frauenfiguren sollte die italienische Hauptstadt die Atmosphäre seiner Romane prägen. Aber auch im demokratischen Italien eckte Moravia immer wieder an. Vor allem der Vatikan, der seine Bücher weiter auf den Index setzte, lehnte ihn wegen seiner ausführlichen sexuellen Beschreibungen ab. Moravias politisches Interesse, das ihn bis zuletzt begleitete und ihn zu seinen vielen Reisen motivierte, dokumentiert sich auch in seiner Wahl zum Abgeordneten der PCI (Kommunistischen Partei Italiens) im Europaparlament von 1984 bis 1989.
Moravia starb am 26. September 1990 in seiner römischen Wohnung am Tiberufer an Herzversagen.
2001: Der neugierige Dieb (Racconti dispersi 1928–1951)
Reiseberichte
1959: Eine russische Reise (Un mese nell'URSS)
1962: Indienreise (Un'idea dell'India)
1968: Die Kulturrevolution in China (La rivoluzione culturale in Cina)
1972: Welchem Stamm gehörst du an? / Die Streifen des Zebras (A quale tribù appartieni?)
1982: Briefe aus der Sahara (Lettere dal Sahara)
1987: Passeggiate africane
Biographisches
1986: Der Junge Alberto. Gespräche mit Alberto Moravia (Il bambino Alberto) von Dacia Maraini
1990: Vita di Moravia (Vita di Moravia) von Moravia und Alain Elkann
Die Jahreszahlen beziehen sich auf die Originalausgaben.
Interview
Claudia Cardinale. Ein etwas ungewöhnliches Gespräch. Schirmer/Mosel, München 2010, ISBN 978-3-8296-0517-5. (Originaltitel: Intervista a Claudia Cardinale. Ein sehr privates Interview des 53-jährigen Dichters, im Auftrag des MännermagazinsEsquire, mit der jungen Schauspielerin Claudia Cardinale aus dem Jahre 1961, übersetzt von Sophia Marzolff.)[5]
Verfilmungen
1953 – Die Wölfin von Kalabrien (La lupa) – Regie: Alberto Lattuada – nach der Novelle La lupa
1953 – Tempi nostri – Regie der 2. Episode: Suso Cecchi d'Amico – nach der Erzählung Der Säugling
1953 – Gefährliche Schönheit (La provinciale) – Regie: Mario Soldati
1954 – Die freudlose Straße (La romana) – Regie: Luigi Zampa – nach dem Roman Die Römerin
Ferdinando Alfonsi: Alberto Moravia in Italia. Un quarantennio di critica (1929–1969). Carello, Catanzaro 1986.
Stefani Arnold: Vergessene Literatur des „ventennio nero“. Italienische Kurzprosa zwischen 1922 und 1945 am Beispiel der frühen racconti Alberto Moravias. Romanist. Verl. Bonn 1997, ISBN 3-86143-064-9. (= Abhandlungen zur Sprache und Literatur, 106.)
Rocco Carbone: Alberto Moravia e gli indifferenti. Loescher, Turin 1992, ISBN 88-201-0017-7.
Erika Kanduth: Wesenszüge der modernen italienischen Erzählliteratur. Gehalte und Gestaltung bei Buzzati, Piovene und Moravia. Winter, Heidelberg 1968. (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; F. 3; 5)
Janice M. Kozma: The architecture of imagery in Alberto Moravia's fiction. UP of North Carolina, Chapel Hill 1993. (= North Carolina studies in the Romance languages and literatures; 244), ISBN 0-8078-9248-3
Joachim Leeker: Existentialistische Motive im Werk Alberto Moravias. Ein Vergleich mit Malraux, Camus und Sartre. Schäuble, Rheinfelden 1979, ISBN 3-87718-717-X. (= Romanistik; 17)
Dacia Maraini (Hrsg.); Alberto Moravia: Der Junge Alberto. Gespräche mit Alberto Moravia. (= rororo 12606). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1990, ISBN 3-499-12606-0.
Giuliana Nuvoli: Uno sguardo al Novecento. Studi di letteratura italiana contemporanea. UNICOPLI, Mailand 2003, ISBN 88-400-0857-8. (= Testi e studi; 168)
Giancarlo Pandini: Invito alla lettura di Alberto Moravia. 7. Auflage. Mursia, Mailand 1990, ISBN 88-425-0563-3. (= Invito alla lettura; Sezione italiana; 20)
Renzo Paris: Moravia – una vita controvoglia. Giunti, Florenz 1996, ISBN 88-09-20729-7.
Thomas Erling Peterson: Alberto Moravia. Twayne, New York 1996, ISBN 0-8057-8296-6. (= Twayne's world authors series; 861; Italian literature)
Giuseppe Rando: La bussola del realismo. Verga, Alvaro, Moravia. Bulzoni, Rom 1992, ISBN 88-7119-505-1. (= L' analisi letteraria; 28)
Wolfram Schmitt: Ekel und Langeweile. Aspekte einer existentiellen Melancholie bei Sartre und Moravia. In: Hermes Andreas Kick (Hrsg.): Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten. (Symposions-Beitrag 2000). Guido Pressler Verlag, Hürtgenwald 2003, ISBN 3-87646-101-4.
M. John Stella: Self and self-compromise in the narratives of Pirandello and Moravia. Lang, New York u. a. 2000, ISBN 0-8204-4454-5. (= Studies in Italian culture; 27)
Roberto Tessari: Alberto Moravia. Introduzione e guida allo studio dell'opera moraviana. Storia e antologia della critica. Le Monnier, Florenz 1989, ISBN 88-00-64470-8. (= Profili letterari; 13)
Pasquale Voza: Moravia. Palumbo, Palermo 1997, ISBN 88-8020-187-5. (= La scrittura e l'interpretazione; 10)
Sharon Wood: Woman as object. Language and gender in the work of Alberto Moravia. Pluto Pr. u. a., London 1990, ISBN 0-7453-0300-5.
Peter V. Zima: Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia und Camus (= Literatur, Imagination, Realität, Band 33). 2. Auflage Wissenschaftlicher Verlag WVT, Trier 2004, ISBN 3-88476-600-7.