Germania ist eine Personifikation mit wechselndem Bedeutungsgehalt. In der Antike, als die Völker Germaniens nur aus dem Blickwinkel der römischen Eroberer als eine Einheit erschienen, stellten diese bereits eine „Germania“ in Form einer Frau als Numen bildlich dar und bezeichneten sie mit demselben Namen, den sie dem Gebiet zugewiesen hatten. Seit dem Mittelalter galt sie, unter Rückbezug auf die Germania magna der Antike, als die nationale PersonifikationDeutschlands im Sinne des Verbreitungsgebiets der deutschen Sprachen.
Bildliche Darstellungen der römischen Götter waren bereits mehrere Jahrhunderte v. Chr. häufige Motive von Statuen, Reliefs und Münzen. Die geografischen Personifizierungen sind daraus hervorgegangen und sie können durch Inschriften, für die Provinz oder Region typische Attribute oder Kleidung und Haartracht der dargestellten Figuren identifiziert werden. Für viele Objekte ist eine sichere Identifizierung allerdings nicht möglich, da es an erhaltenen Inschriften mangelt. Bei der Feststellung, wann die Germania als Personifikation auftrat und in welcher Weise sie dargestellt wurde, spielen die durch Aufschriften und Herrscherporträts leicht zu datierenden Münzen eine herausragende Rolle.
Statuen und Reliefs
Die seit dem frühen 16. Jahrhundert in der Antikensammlung der Familie della Valle in Rom nachgewiesene und seit dem 18. Jahrhundert in Florenz in der Loggia dei Lanzi gezeigte Marmorstatue Die trauernde Barbarin wird seit Jahrhunderten trotz fehlender Beweise als Darstellung der historischen Persönlichkeit Thusnelda angesehen, weil die Kleidung der Beschreibung germanischer Frauen, die Tacitus in seiner Germania hinterlassen hat, entspricht und die Statue den Germaninnen ähnelt, die auf den Reliefs der Marcussäule, auf dem Konstantinsbogen in Rom und auf den von Hadrian und Mark Aurel geprägten Münzen dargestellt sind.[2]
Münzen
Römischer Siege und Eroberungen auf Münzen zu gedenken, war über Jahrhunderte üblich, und die Darstellungen waren vielfältig. Die ohnehin als Münzbild verwendete Abbildung des eigenen Herrschers, mit einer Beischrift, die auf das Ereignis anspielte, war die einfachste Form, auch in Begleitung von Gottheiten wie der Siegesgöttin Victoria. Später kamen verschiedene Symbole hinzu, mit denen der unterlegene Gegner sinnbildlich dargestellt wurde. Dazu wurden typische Waffen oder andere Gegenstände des Gegners gezeigt, wie eine armenische Kopfbedeckung mit der Umschrift „ARMENIA DEVICTA“, exotische Tiere wie Elefanten (Afrika) oder Krokodile (Ägypten) oder auch Personifikationen der Besiegten. Schon unter Sulla wurde um 80 v. Chr. ein Frauenkopf mit einer Elefantenkappe als Personifikation Afrikas dargestellt. Mit dieser Münze sollte des Sieges des Feldherrn Pompeius in Nordafrika gedacht werden.[3] Auf einem Denar Gaius Iulius Caesars (reg. 49–44 v. Chr.) sind zu beiden Seiten eines Tropäums gefangene Gallier mit der Gallia abgebildet. Eine Kupfermünze Vespasians (69–79) aus dem Jahr 71 oder 72 erinnerte an die Eroberung Judäas und die Zerstörung Jerusalems. Sie zeigt links unter einer Dattelpalme eine sitzende trauernde Judäa und rechts Vespasian mit erhobenem Speer, ebenso groß wie die Palme abgebildet, den Fuß auf einen am Boden liegenden Helm gestützt, mit der Inschrift „IUDAEA CAPTA“. Weitere Varianten des Themas zeigen die Judäa in gleicher Pose, aber anstelle des Kaisers gefangene Soldaten oder auf dem Boden liegende Speere und Schilde.[4][5]
Auf Golddenaren des Kaisers Domitian (81–96) wird eine Germania in entwürdigender Pose gezeigt, mit entblößtem Oberkörper, trauernd auf ihrem Schild sitzend und mit zerbrochenem Speer. Diese Prägung bezog sich auf die römischen Siege über die Chatten. Golddenare mit diesem Motiv wurden erstmals im Jahr 84 geprägt, als Domitian den Beinamen Germanicus annahm. Während dieser Zeit wurde auf Sesterzen als weiteres Motiv ein Tropäum mit der Aufschrift „GERMANIA CAPTA“ abgebildet, auf dessen rechter Seite ein stehender Gefangener und links eine sitzende trauernde Germania gezeigt wurden. Der Schriftzug „GERMANIA CAPTA“ und die bildliche Darstellung sind hier als direkter Rückbezug auf die Münzen Vespasians anlässlich der Unterwerfung Judäas zu betrachten. Weitere Motive mit der Germania zeigten sie gemeinsam mit Domitian, dem sie als Zeichen der Unterwerfung ihren Schild überreichte, oder umgeben von auf dem Boden liegenden Speeren und Schilden als Sinnbild für die Heftigkeit der Kämpfe.[4][5][6]
Die Germania-Darstellungen auf Münzen des Kaisers Hadrians (117–138) haben sich gewandelt. Die Germania zeigt sich in der Art einer Minerva, aufrecht stehend mit Schild und Speer, nur mit der Inschrift „GERMANIA“ ohne abwertenden Zusatz. Es sind verschiedene Darstellungen bekannt, auch solche mit einer entblößten Brust. Nun ist dies nicht mehr als Zeichen der Demütigung zu verstehen, sondern als Attribut. Tacitus hat um 98 in seiner Germania die Kleidung der Germanen beschrieben, bei denen beide Geschlechter ärmellose Umhänge trugen, die die Brust nicht vollständig bedeckten.[7] Diese Wandlung, auch in der positiven Darstellung anderer Personifikationen wie Hispania, Africa und Asia, war darin begründet, dass Hadrians Regierungszeit vom weitgehenden Verzicht auf militärische Aktionen und vom Rückzug aus einer Reihe von Gebieten geprägt war. In dieser Zeit des Friedens führte Hadrian eine Reihe von Reisen in die Provinzen, auch nach Germanien, durch. Er verstand das römische Reich als eine Gemeinschaft der Provinzen und Regionen, die Personifikationen der von ihm besuchten Gebiete wurden zum Motiv von Münzen, ohne dass dies zur Feier ruhmreicher Eroberungen geschah.[6]
Unter Mark Aurel (161–180) und Commodus (180–192) folgten in Würdigung der Markomannenkriege wieder Münzen mit Abbildungen der Germania, die sie mit der Inschrift „GERMANIA SVBACTA“ zeigten. Hier erschien erneut das fast einhundert Jahre zuvor unter Domitian verwendete Motiv der besiegten, gedemütigten und trauernden Germania, nun am Fuße eines Tropäums sitzend.[5][6][8]
Mittelalter
Auch im Mittelalter findet sich die Personifikation Germania für Deutschland, so um das Jahr 1000 zusammen mit Roma, Gallia und Sclavinia im Evangeliar Ottos III. (München) oder zusammen mit Roma und Gallia im Perikopenbuch Heinrichs II.
Napoleonische Kriege
Im Gefolge der Napoleonischen Kriege wuchs die Bedeutung der Germania als Personifizierung Deutschlands, allerdings im Vergleich zur französischen Marianne weiter in einer in Bezug auf das Herrschaftssystem unpolitischen Bedeutung. Ein Beispiel ist die Grafik Hermann befreit Germania von Karl Ruß, eine der ersten bildlichen Darstellungen der Germania im 19. Jahrhundert. Durch den Hinweis auf die Völkerschlacht bei Leipzig (links unten im Bild), die die napoleonische Vorherrschaft über Europa beendete, zieht er eine geschichtliche Linie zwischen den Germanen der Antike und den Deutschen des 19. Jahrhunderts. Die von Arminius besiegten Römer stehen stellvertretend für die wenige Jahre zuvor aus Deutschland vertriebenen „französischen Feinde“.[9]
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gingen die Bestrebungen, das in verschiedene Staaten aufgeteilte Deutschland zu vereinigen, mit einem Anwachsen des deutschen Nationalismus einher. Die Nation wurde aus einer imaginären Vergangenheit beschworen als uralter Organismus, der im „Volksgeist“ wurzelt. Historiker und Dichter entdeckten Mythen und Geschichten, darunter die Germania. Dem verbreiteten Topos vom rohen, unzivilisierten und trinkfesten Deutschen wurde das Idealbild von Tacitus’ Germania gegenübergestellt, als Beleg dafür, dass die Deutschen ein Volk mit gemeinsamen Vorfahren (einfache, unverbildete, treu und tapfer lebende Germanen) und gemeinsamer Geschichte seien, die bis in die Antike zurückreiche.[10]
Gleiche und weitere Attribute fand der Düsseldorfer MalerChristian Köhler für seine Erwachende Germania, die er im Geist der entstehenden deutschen Nationalromantik 1849 schuf.[11][12] Die Bildmotive des deutschen Nationalismus gewannen durch die in den Schützen-, Sänger- und Turnerfesten sich fortsetzenden Einigungsbestrebungen der 1850er und 1860er Jahre weitere – lyrische, musikalische, malerische und plastische – Erscheinungsformen.
Erwachende Germania von Christian Köhler, 1849: Ihr erscheinen die Genien der Gerechtigkeit und Freiheit, während Knechtschaft und Zwietracht in den Abgrund stürzen.[13]
Eine durch die Rheinromantik beeinflusste, populäre Gestalt einer Germania hat der Düsseldorfer Maler Lorenz Clasen in seiner Germania auf der Wacht am Rhein geschaffen, die erstmals den betont wehrhaften Typus der Germania darstellt. Seine Germania ist eine mit Schwert und Reichsadlerschild bewaffnete, walkürenhafte[14] Figur, die kampfesbereit über den Rhein in Richtung Westen blickt. Auf dem Doppeladlerschild steht geschrieben: „Das deutsche Schwert beschützt den deutschen Rhein.“ Das Motiv wurde in zahlreichen Stichen reproduziert.
Die Verkörperung einer zum Krieg gerüsteten Germania gewann durch die Jahre 1870 und 1871 (Deutsch-Französischer Krieg) noch mehr an Verbreitung. Diese Entwicklung stand im Kontext der Historienmalerei und Monumentalmalerei der Wilhelminischen Ära, in der es Preußen darum ging, eine nationale Geschichte in seinen Provinzen, vornehmlich in Rathäusern, Schlössern, Universitäten und Ruhmeshallen, volkstümlich zu vermitteln.[15] Die zahlreichen Sieges- und Kriegerdenkmäler haben ähnliche und weitere Typen geschaffen, von denen Johannes SchillingsNiederwalddenkmal wohl am volkstümlichsten geworden ist. Die Germania wird oft als glorreiche Kriegerin mit Waffen und Reichsinsignien dargestellt. In wenigen Darstellungen trauert sie um die deutschen Gefallenen.[16] Diese Germania kann als eine Verbindung einer „Schlachtenjungfrau“ (Walküre) mit der das „Vaterland“ versinnbildlichenden „deutschen Mutter“ gedeutet werden.
Von 1900 bis 1922 wurde von der Reichspost eine Germania-Briefmarkenserie herausgegeben, die die gekrönte Germania im Profil zeigte. Mit Blick auf Kriegerdenkmäler, die als Folge des Ersten Weltkriegs zu errichten zu sein würden, meinte der Architekturkritiker Hermann Muthesius im Jahr 1916, dass Sinnbilder wie Germania, Reichsadler und Viktoria sich stark abnutzt hätten, und bedauerte, dass sie jedoch in Ortsausschüssen, Ehrenkomitees und Kriegervereinen noch starken Anklang fänden.[18]
Anlässlich der Saarabstimmung erschien am 16. Januar 1935, wenige Tage nach der Abstimmung, eine weitere Reihe von Briefmarken mit dem Bildmotiv Die Saar kehrt zur Mutter Deutschland zurück. Diese Marken zeigten im Unterschied zur allegorischen Figur vom Anfang des Jahrhunderts eine realistisch dargestellte Mutter, die ihre Tochter in die Arme nimmt und bei der nur ein Eichenkranz auf dem Kopf ihre Rolle als Germania andeutet.[19]
Im Alltagsleben des 21. Jahrhunderts ist die Figur der Germania nahezu bedeutungslos. Ohne dass sie bewusst wahrgenommen wird, erscheint sie jedoch noch häufig in den Eigennamen von Vereinen, besonders studentischer Verbindungen und Sportvereinen, deren Gründung im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfolgte.
Im Ende März 2019 von der Band Rammstein veröffentlichten Musikvideo Deutschland ist die Figur der Germania prominent vertreten. Gespielt von der afrodeutschen Schauspielerin Ruby Commey erscheint Germania in verschiedenen Episoden der deutschen Geschichte.
Teresa Baier: Germania-Allegorien in Heroiden und heroiden-ähnlicher Dichtung der Frühen Neuzeit (1529–ca. 1700). De Gruyter, Berlin 2022.
Bettina Brandt: Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne (= Historische Semantik. Band 10). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen u. a. 2010, ISBN 978-3-525-36710-0.
Esther-Beatrice Christiane von Bruchhausen: Das Zeichen im Kostümball – Marianne und Germania in der politischen Ikonographie. Dissertation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2000 (Dissertation bei der Deutschen Nationalbibliothek).
Lothar Gall: Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahrhundert. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse 1993, S. 35–88.
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Adolf Furtwängler und Heinrich Ludwig Urlichs (Hrsg.): Denkmäler griechischer und römischer Skulptur. Im Auftrag des K. Bayer. Staatsministeriums des Innern für Kirchen und Schulangelegenheiten. Handausgabe. Dritte stark vermehrte Auflage. F. Bruckmann, München 1911, S. 166–168, Tafel 47. Online, abgerufen am 31. Dezember 2013.
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George F. Hill: Historical Roman coins, from the earliest times to the reign of Augustus. Constable & Co., London 1909, S. 94–98. Online, abgerufen am 29. Dezember 2013.
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Francis Hobler: Records of Roman history, from Cnæus Pompeius to Tiberius Constantinus, as exhibited on the Roman coins, volume 1. John Bowyer Nichols and Sons, Westminster 1860, S. 210–211. Online, abgerufen am 29. Dezember 2013.
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Edward A. Sydenham: Historical references on coins of the Roman Empire from Augustus to Gallienus. Spink & Son, London 1917. Online, abgerufen am 29. Dezember 2013.
↑Rainer Pudill: Er zähmte die Wölfin. Die Zeit des Kaisers Hadrian im Spiegel seiner Münzen. Das Fenster in der Kreissparkasse Köln, Thema 152, Oktober 1996. Geldgeschichtliche Sammlung, Kreissparkasse Köln, 1996, S. 9 Online PDF 10,8 MB, abgerufen am 30. Dezember 2013.
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Francis Hobler: Records of Roman history, from Cnæus Pompeius to Tiberius Constantinus, as exhibited on the Roman coins, volume 2. John Bowyer Nichols and Sons, Westminster 1860, S. 514–516 Online, abgerufen am 29. Dezember 2013.
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Colleen Becker: Aby Warburg’s Pathosformel as methodological paradigm. In: Journal of Art Historiography. Nr. 9, Dezember 2013, Artikel CB1 (PDF; 1150 kB), abgerufen am 29. Dezember 2013.
↑Das Bild gelangte schon bald in die Vereinigten Staaten. In New York City wurde es in der Düsseldorf Gallery und in den Räumen der New-York Historical Society ausgestellt. Vgl. William H. Gerdts: „Good Tidings of the Lovers of the Beautiful“. New York’s Düsseldorf Gallery, 1849–1862. In: American Art Journal. 30 (1999), Nrn. 1–2, S. 56, 62; Bettina Brandt: Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, ISBN 978-3-525-36710-0, S. 240.
↑Friedrich Schaarschmidt: Zur Geschichte der Düsseldorfer Kunst, insbesondere im XIX. Jahrhundert. hrsg. vom Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Verlag August Bagel, Düsseldorf 1902, S. 81 (online).
↑Bettina Baumgärtel: Germania auf der Wacht am Rhein 1860. Katalognr. 242, und Kriegs- und Schlachtenmalerei – Reformstau in der Kaiserzeit. In: Bettina Baumgärtel (Hrsg.): Die Düsseldorfer Malerschule und ihre internationale Ausstrahlung 1819–1918. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2011, ISBN 978-3-86568-702-9, Band 2, S. 286 und 289
↑ohne Verfasser: Deutsches Reich. Ausgaben der Reichspost für den Reichspostbezirk. In: ohne Verfasser: Michel Deutschland-Katalog 2009/2010. Schwaneberger Verlag, Unterschleißheim 2009, ISBN 978-3-87858-044-7, S. 119–203.
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