1936 habilitierte er sich mit der Arbeit Přirozený svět jako filosofický problém (Die natürliche Welt als philosophisches Problem), der ersten systematischen phänomenologischen Studie in tschechischer Sprache, die entsprechend einflussreich auf die tschechische Philosophie wirkte. 1937 übernahm Patočka die Stelle des verantwortlichen Redakteurs der philosophischen Zeitschrift Česká mysl (Der tschechische Geist). 1938 wurde er Mitglied des Pariser Institut International de Philosophie.
Patočka arbeitete als Übersetzer aus dem Deutschen und aus dem Französischen am Masaryk-Institut, am pädagogischen und am philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften. Daneben hielt er Vorträge in Privaträumen, in den 1960er Jahren auch als Gastdozent in Deutschland, Frankreich und Belgien.
1968, in der Zeit des Prager Frühlings berief man Patočka zum Professor an der Karls-Universität. Jedoch wurde er bereits 1972 zwangspensioniert. 1971 erhielt er ein Ehrendoktorat der Technischen Universität Dresden, die Ausreise wurde ihm jedoch nicht gestattet. 1973 reiste er ohne Erlaubnis zu einem internationalen Philosophenkongress in Varna, woraufhin er mit Reise- und Publikationsverbot belegt wurde. Seine Schriften wurden im Samisdat herausgegeben und zahlreiche Studenten nahmen weiterhin an seinen Vorlesungen in Privatwohnungen teil.
1976 organisierte Patočka eine erfolgreiche Petition zur Freilassung der Mitglieder der Undergroundband Plastic People of the Universe. 1977 wurde Patočka zusammen mit Václav Havel und Jiří Hájek zum Sprecher der Charta 77.[1] Nach einem Treffen mit dem niederländischen Außenminister Max van der Stoel wurde er immer wieder von der StB verhört. Nach einem dieser Verhöre musste er in ein Krankenhaus eingeliefert werden und starb an Apoplexie.
Jan Patočka wurde auf dem St.-Margarethen-Friedhof in Břevnov beigesetzt. Seine Bestattung wurde zum Ereignis des antikommunistischen Widerstandes. Aus dem ganzen Land kamen die Intellektuellen zusammen, um Jan Patočka die letzte Ehre zu erweisen. Derweil saßen Mitarbeiter der Staatssicherheit auf den Gräbern rundum, um die Trauergäste zu filmen. Mit dem Lärm von Motorrädern und eines Hubschraubers übertönte die Staatssicherheit die Gebete und die Ansprachen am Sarg.[2]
Werke
Damit der Nachlass von Jan Patočka nicht den tschechoslowakischen Behörden in die Hände fiel, wurde er kopiert (vor allem von Věra Jirousová) und nach Wien gebracht.[3] Dort wurde er dokumentiert und wissenschaftlich bearbeitet. Neben zahlreichen Samisdatveröffentlichungen vor 1989 gibt es eine deutschsprachige Werkausgabe. Seit 1990 wird eine tschechische Gesamtausgabe ediert.
Band I: Kunst und Zeit. Herausgegeben von Klaus Nellen und Ilja Srubar. Einleitung von Walter Biemel. 1987, ISBN 3-608-91460-9, 597 S.
Band II: Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte. Herausgegeben von Klaus Nellen und Jiri Nemec. Einleitung von Paul Ricœur. 1988, ISBN 3-608-91461-7, 497 S.
Band III: Die natürliche Welt als philosophisches Problem. Phänomenologische Schriften I. Herausgegeben von Klaus Nellen und Jiri Nemec. Einleitung von Ludwig Landgrebe. 1990, ISBN 3-608-91462-5, 319 S.
Band IV: Die Bewegung der menschlichen Existenz. Phänomenologische Schriften II. Herausgegeben von Klaus Nellen, Jiri Nemec und Ilja Srubar. Einleitung von Ilja Srubar. 1991, ISBN 3-608-91463-3, 650 S.
Band V: Schriften zur tschechischen Kultur und Geschichte. Herausgegeben von Klaus Nellen, Petr Pithart und Miroslav Pojar. 1992, ISBN 3-608-91491-9, 371 S.
Eugen Fink und Jan Patočka. Briefe und Dokumente, 1933–1977. Herausgegeben von Michael Heitz und Bernhard Nessler. Alber, Freiburg und München / Oikumenē, Prag 1999, ISBN 3-495-47896-5.
Jan Patočka. Texte, Dokumente, Bibliographie. Herausgegeben von Ludger Hagedorn und Hans R. Sepp. Alber, Freiburg und München / Oikumenē, Prag 1999, ISBN 3-495-47962-7.
Vom Erscheinen als solchem. Texte aus dem Nachlaß, herausgegeben von Helga Blaschek-Hahn und Karel Novotný. Alber, Freiburg und München / Oikumenē, Prag 2000, ISBN 3-495-47904-X.
Andere Wege in die Moderne. Studien zur europäischen Ideengeschichte von der Renaissance bis zur Romantik, hg. von Ludger Hagedorn. Königshausen und Neumann, Würzburg 2006, ISBN 3-8260-2846-5.
Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte (Neuübersetzung von Sandra Lehmann). Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3518294543.
Europa und Nach-Europa, hgg. von Ludger Hagedorn und Klaus Nellen. Alber, Freiburg und München 2024, ISBN 978-3-495-48806-5.
Tschechischsprachige Publikationen
Přirozený svět jako filosofický problém (Lebenswelt als philosophisches Problem), Prag 1936
Aristoteles, jeho předchůdci a dědicové (Aristoteles, seine Vorgänger und Erben), Prag 1963
O smysl dneška (Um den Sinn von Heute), Prag 1969
Kacířské eseje o filosofii dějin (Ketzerische Essays über Philosophie der Geschichte), Prag 1975 (Selbstverlag)
Sebrané spisy 1-20 (Gesammelte Werke 1–20). Oikumene, Prag (bis 2010 sind 15 Bänder erschienen).
Literatur
Armin Homp, Markus Sedlaczek (Hrsg.): Jan Patočka und die Idee von Europa. MiOst, Berlin 2003, ISBN 3-980808-31-9.
Jacques Derrida: Den Tod geben. In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-518-11706-8.
Helmuth Vetter (Hrsg.): Lebenswelten. Ludwig Landgrebe, Eugen Fink, Jan Patočka. Frankfurt am Main u. a. 2003 (Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie; Band 9). ISBN 3-631-50137-4.
Sandra Lehmann: Der Horizont der Freiheit. Zum Existenzdenken Jan Patočkas. Würzburg : Königshausen und Neumann, 2004, ISBN 3-8260-2961-5.
Filip Karfík: Unendlichwerden durch die Endlichkeit. Eine Lektüre der Philosophie Jan Patočkas. Würzburg : Königshausen und Neumann, 2008, ISBN 978-3-8260-2866-3.
Dalibor Truhlar: Jan Patočka. Ein Sokrates zwischen Husserl und Heidegger. Sonderpublikation des Universitätszentrums für Friedensforschung Wien, 1996.