Nelly Roussel wuchs in Paris in einer gutbürgerlichen, katholischen Familie auf. Mit 20 Jahren heiratete sie den 15 Jahre älteren Bildhauer und Freidenker Henri Godet[1], mit dem sie drei Kinder hatte. In der Grande Loge symbolique écossaise[A 2] Gustave Mesureurs[2] wurde sie in die Freimaurerei eingeführt. Sie stand dem Gründerkern des internationalen gemischten Freimaurerordens Le Droit Humain nahe[3] und war der Loge Nr. 43 angeschlossen[4].
Nelly Roussel war eine militante Antinatalistin[5] und wie Madeleine Pelletier eine der ersten Frauen in Europa, die öffentlich das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper forderte und für eine Politik der Geburtenkontrolle eintrat. Als Neo-Malthusianerin setzte sie sich für das Recht auf Empfängnisverhütung und Abtreibung ein; nach Ansicht der Historikerin Christelle Taraud[6] eine „extrem revolutionäre und selbst innerhalb der Frauenbewegung minoritäre Position“.[7] Sie rebellierte, nutzte ihre Redekunst und rief zum „Streik der Bäuche“ auf.
Gemeinsam mit Madeleine Pelletier betonte sie die Bedeutung der Sexualerziehung für Mädchen.[8] Für sie stand ein Ziel im Vordergrund: Mutterschaft und Sexualität zu entkoppeln. Es ging ihr nicht darum, die freie Liebe zu fördern, wie ihre Gegner (auch die Feministinnen) glauben machen wollten, sondern um das Recht der Frau ohne ungewollte und oft schmerzhafte Mutterschaft ihre Sexualität zu genießen und auszuleben. Die Frau sollte die Möglichkeit haben, sich für die Mutterschaft zu entscheiden.[9]
Roussel kämpfte für eine Veränderung des traditionellen Frauenbildes. Ihr Handeln, Leben und Denken richtet sich gegen dieses Modell und entwickelte stattdessen das Modell der „neuen Frau“, das in den USA sehr präsent war. Eine sportliche, aktive Frau, die in einen Beruf investiert, der sie aufwertet. Sie stellte dem „ewig Weiblichen“ das gegenüber, was sie „ewig Geopferte“ nannte (so der Titel eines ihrer Bücher). Die Frau, schrieb sie, „wird in der Tat nicht nur von Gott und der Natur geopfert, sondern auch von der republikanischen Gesellschaft selbst“.[10] Sie stellte die Ehe ohne Liebe als Prostitution dar, kämpfte für die Abschaffung der Bestimmungen des Code civil, die die verheiratete Frau vor dem Gesetz und der Gesellschaft zu einer Unmündigen machen würden und für die Erlangung des Wahlrechts.[7]
Sie starb am 18. Dezember 1922 an Tuberkulose[11] und wurde auf dem Friedhof Père-Lachaise (93. Abteilung) beigesetzt.
Par la révolte et La Faute d’Eve (= Au temps de l’anarchie, un théâtre de combat : 1880–1914). Séguier Archimbaud, 2001.
Literatur
Im Text verwendet
Nicole Edelman: Elinor Accampo, Blessed Motherhood, Bitter Fruit. Nelly Roussel and the Politics of Female Pain in Third Republic France. Band35. Revue d’histoire du XIXe siècle, 2007 (openedition.org).
Anne Epstein, Anne Cova: Féminismes et néo-malthusianismes sous la IIIe République : La liberté de la maternité. Clio, 2012, doi:10.4000/clio.10903 (openedition.org).
Yvonne Knibiehler: L’éducation sexuelle des filles au XXe siècle (= Histoire‚ femmes et sociétés). Clio, 1996, doi:10.4000/clio.436 (openedition.org).
Francis Ronsin: La grève des ventres – Propagande néo-malthusienne et baisse de la natalité en France, 19e – 20e siècles. Aubain Montaigne, 1980, ISBN 978-2-7007-0177-7.
Jeffrey Tyssens: Le monument Ferrer ou l’histoire d’une statue mal aimée. In: Francisco Ferrer, cent ans après son exécution. Les avatars d’une image, Actes du colloque organisé en octobre 2009. Centre interdisciplinaire d’étude des religions et de la laïcité et le Centre d’histoire et de sociologie des gauches de l'Université libre de Bruxelles, 2011 (academia.edu).
Weitere
Le Grief des femmes. Anthologie de textes féministes du Second Empire à nos jours. Hier et demain, 1978.
The new biography. Performing femininity in nineteenth-century France (= Studies on the history of society and culture). University of California Press, 2000.
Elinor Accampo: Industrialization, Family and Class Relations : Saint Chamond, 1815–1914. University of California Press, 1989.
Elinor Accampo: Blessed Motherhood, Bitter Fruit. Nelly Roussel and the Politics of Female Pain in Third Republic France. Johns Hopkins University Press, 2006, ISBN 978-0-8018-8404-7.
Léo Campion: Le Drapeau noir, l’Équerre et le Compas : les Maillons libertaires de la Chaîne d’Union. Éditions Alternative libertaire, 1996 (wikiwix.com).
Michel Jarrige: L'antimaçonnerie en France à la Belle époque : Personnalités, mentalités, structures et modes d’action des organisations antimaçonniques (= Lumina). Archè, 2006, ISBN 978-2-8251-0146-9.
Claude Maignien et Salwan Magda: Deux féministes, Nelly Roussel, Madeleine Pelletier. Bibliothèque Marguerite-Durand, 1975.
François-Olivier Touati: Maladies, médecines et sociétés. association Histoire au Présent, 1993.
↑Ursprüngliche Legende in der Zeitung Excelsior vom 13. Dezember 1910: Frankreich hat wie England seine Suffragetten. Der Streit geht von den französischen Suffragetten aus. Einige von ihnen, ermutigt durch das Beispiel der englischen Suffragetten, behaupten, sie würden ihre Rechte mit Gewalt einfordern. Wir nennen hier die „Anführerinnen“ der verschiedenen Gruppen. 1) Miss Hubertine Auclert. - 2. Frau Glatof (sic) - 3. Frau Nelly Roussel. - 4. Doktorin Pelletier. - 5. Frau Marguerite Durand. - 6. Frau Kaufmann. - 7. Frau Vérone und Frau Jeanne Laloë. - 8. Fräulein Chapuis. - 9. Fräulein Oddo Deflou. - 10. Mme Avril de Sainte-Croix.