Die Familie des Malers, Zeichners und Graphikers Walter Kühne (1875–1956) ohne den Vater: vorn die drei Kinder Wolfgang (1902–1935), Walter Georg und Maria (1907–1987), rechts Mutter Renata Kühne (1880–1945), geb. von Stülpnagel, hinten links deren Tante Martha Rudolph, geb. Wolff
Er wurde während der Kaiserzeit als Sohn des aus Berlin stammenden Malers, Zeichners und Graphikers Walter Kühne (1875–1956) und dessen Ehefrau Renata von Stülpnagel (1880–1945) geboren, die im Mai 1901 geheiratet hatten.[1] Er hatte zwei ältere Geschwister, Wolfgang (1902–1935) und Maria (1907–1987), genannt „Lauchen“.[2] Seine Kindheit verbrachte der Linkshänder überwiegend in der Lausitz,[3] wo sich die Eltern 1907 ein Landhaus am Ortsrand hatten errichten lassen, das bereits im Jahr seiner Geburt durch Anbauten erweitert wurde.[2]
Walter Georg Kühne war zweimal verheiratet; während seiner ersten Ehe mit Charlotte Petsche von 1934 bis zur Scheidung 1956 hatte er einen außerehelichen Sohn. Während seiner zweiten Ehe ab 1959 mit seiner entfernten Kusine Ursula Kühne bekam er zwei weitere außereheliche Kinder nach seiner Emeritierung.[3][4]
Walter Georg Kühne wird als ein Mensch beschrieben, der das Provisorium liebte. Eine Atmosphäre des Behelfsmäßigen und Vorläufigen habe für sein Wohlbefinden gesorgt und sei seiner ausufernden Phantasie sehr förderlich gewesen. Was zur Regel bzw. Institution wurde, habe ihn eingeengt; jede Routine sei ihm ein Greuel gewesen. Dieser Charakterzug habe auch sein Privatleben geprägt.[3]
Schule
Abiturienten Walter Georg Kühne (2. von links) und Gerhard Bry (4. von links), März 1930
Nach der Schließung des Internats auf dem Sinntalhof wechselte Walter Georg ab 1923 zur Freien Schulgemeinde nach Wickersdorf bei Saalfeld im Thüringer Wald. Dieses Landerziehungsheim hatten zuvor bereits seine beiden Geschwister Wolfgang von 1915 bis 1919 und Maria von 1922 bis 1923 besucht.[5] Vom März 1915 bis zum Dezember 1916 war sein Vater dort als Zeichenlehrer tätig gewesen.[6][7]
Sein Studium der Geologie und Paläontologie begann er an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, wechselte jedoch nach drei Semestern zur Martin-Luther-Universität nach Halle an der Saale,[4] wo er dem Paläontologen und Geologen Johannes Weigelt auffiel. In der Folge wurde er von diesem finanziell gefördert und mit dem entscheidenden Rüstzeug für seine paläontologische Laufbahn ausgestattet.[3]
Nach der Machtabtretung an die Nationalsozialisten kam Kühne 1933 wegen der Verbreitung kommunistischer Parolen für neun Monate in Untersuchungshaft und wurde deshalb noch im selben Jahr, am 6. Oktober 1933,[4] durch die Hallenser Universität relegiert.[3]
Nach seiner Entlassung musste er sich durch ganz unterschiedliche Tätigkeiten ökonomisch über Wasser halten, verkaufte selbst gesammelte Fossilien, arbeitete als Bibliotheksgehilfe, verfasste populärwissenschaftliche Artikel und trug für den preußischen Generalkonservator Unterlagen für ein Verzeichnis mittelalterlicher Kirchenglocken mit Fadenreliefs zusammen. 1934 heiratete er.[3]
Der politische Druck im NS-Staat nahm kontinuierlich zu und ging auch an Kühne nicht spurlos vorüber. Mit seiner Ehefrau Charlotte emigrierte er im Januar 1939 nach England.[4] Nach der Kriegserklärung wurde das Ehepaar als Enemy Alien behandelt und von 1940 bis 1944 auf der Isle of Man interniert. Nach Entlassung und Kriegsende verblieben beide jedoch in England, ein Entschluss, der sich für das Fachgebiet der Wirbeltier-Paläontologie als bedeutsam erweisen sollte.[3]
Im Jahr 1952 kehrte Kühne nach Deutschland zurück.[4] Die nun in Ost-Berlin liegende Humboldt-Universität war an ihm oder seinem Fachgebiet offenbar nicht interessiert. Kühne musste sich durch den Verkauf von Versteinerungen mühsam über Wasser halten.[4] Als Haupteinnahmequelle erwiesen sich offenbar die von ihm mit großem handwerklichen Geschick mit einem Säure-Verfahren freigelegten winzigen gezackten Graptolithen.[3]
Die 1948 gegründete Freie Universität in West-Berlin offerierte ihm 1956 eine Dozentur für Paläontologie am Geologisch-Paläontologischen Institut der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, für die sich insbesondere Max Richter starkgemacht hatte. In der Folge verstand Kühne es, einen Kreis junger Leute um sich zu versammeln, die er für Fossilien und die Evolution zu begeistern vermochte. Aus dieser Keimzelle entstand innerhalb des Instituts die Abteilung Paläontologie, deren Arbeit weitgehend auf die Kunst der Improvisation angewiesen war, diese jedoch unter Kühnes Leitung versiert zu betreiben wusste. Im Jahr 1963 gründete sich der Lehrstuhl für Paläontologie. Kühne wurde zunächst zum außerordentlichen Professor berufen, dann Lehrstuhlinhaber und schließlich 1966 Ordinarius.[4] Im Jahr 1971 wurde aus dem Lehrstuhl ein selbständiges Institut für Paläontologie.[3]
Ende der 1950er Jahre fokussierte Kühne sukzessive auf die frühe Geschichte der Säugetiere. Er erwarb sich besondere Verdienste, indem er sich nicht mit mehr oder weniger zufällig entdecktem Material befassen wollte. Stattdessen begann er damit, gezielt nach Objekten seines Interesses zu suchen und Kriterien für diese Suche zu definieren. Dadurch wies er der Paläontologie einen neuen, entscheidenden Weg. Er entwickelte eine rege Prospektionstätigkeit in Spanien und Portugal, wobei mehrere Säugetier-Lokalitäten entdeckt wurden, darunter 1959 auch die zentral in Portugal liegende Grube Guimarota bei Leiria, die dann ab 1973 Kühnes Schüler Bernard Krebs eine bis heute unübertroffene Fauna jurassischer Säugetiere geliefert hat.[3] Im Jahr 1976 wurde Kühne emeritiert.[4]
Kühne hielt die Suche nach verborgenen, nicht jedem zugänglichen Dingen für eine praktische Anwendung des dialektischen Materialismus. Diese Auffassung legte er in seinem 1979 erschienenen Werk Paläontologie und dialektischer Materialismus dar, das in der DDR erschien.[16]
Er verstarb im Alter von 80 Jahren. Da er seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte, wurde er erst zwei Jahre später in Jamlitz beigesetzt.[3]
Ehrungen
Ihm zu Ehren ist die Gattung früher Säugetiere Kuehneotheria und die Art des DinosauriersAlocodonkuenei benannt, außerdem die als Kuehneosaurus benannte Gleitflugechse aus dem Trias.
Werke
Fadenreliefs mittelalterlicher Kirchenglocken. In: Atlantis – Länder, Völker, Reisen. Martin Hürlimann (Hrsg.), Jahrgang X, Heft 8, Leipzig/Zürich 1938, S. 461–465
The Liassic Therapsid Oligokyphus, London, British Museum 1956, OCLC30187575
Rhaetische Triconodonten aus Glamorgan. Ihre Stellung zwischen den Klassen Reptilia und Mammalia und ihre Bedeutung für die Reichart'sche Theorie (Habilitationsschrift), 12. Juli 1958. In: Paläontologische Zeitschrift, Band 32, Nr. 3/4, 1958, S. 197–235, OCLC73957752
mit Bernard Krebs: History of discovery, report on the work performed, procedure, technique and generalities, in: Friedrich-Franz Helmdach u. a., Contribuição para a fauna do Kimeridgiano da mina de lignito Guimarota (Leiria, Portugal), Memórias dos Serviços Geológicos de Portugal, Direçcâo Geral de Minas e Serviços Geológicos de Portugal (Herausgeber), Lissabon 1968, OCLC312490177
Paläontologie und dialektischer Materialismus. VEB Gustav Fischer Verlag, Jena 1979, OCLC7009219
Paleontology and dialectis (= Documenta naturae, 62). Kanzler, München 1986, OCLC75626535
Quo vadis, Paläontologie? Paläontologische Essays von Walter Georg Kühne 1943–1990 (= Documenta naturae, 113). Rolf Kohring, Thomas Schlüter (Hrsg.), München 1997, OCLC48724043
Literatur
Michael E. Schudack (Hrsg.): Beiträge zur Paläontologie. Zum Gedenken an Walter Georg Kühne. (= Berliner geowissenschaftliche Abhandlungen A, 134). Freie Universität Berlin, Fachbereich Geowissenschaften (Hrsg.), Berlin 1991. ISBN 978-3-927541-35-1
Margarete Schilling: Figürliche Ritzzeichnungen auf historischen Glocken: Graphitabreibungen von Charlotte und Walter G. Kühne. Band 1–3. Selbstverlag, Apolda 2004 (ohne ISBN), OCLC1186292198
↑ abcdefghijklElisabeth Krebs: Walter Georg Kühne 26. Februar 1911 – 16. März 1991 (Nachruf). In: Paläontologie aktuell, Mitteilungsblatt der Paläontologischen Gesellschaft, Beigabe zur Paläontologischen Zeitschrift, Heft 24, Dezember 1991, S. 18–22
↑ abcdefghijkMichael Schmitt: From Taxonomy to Phylogenetics – Life and Work of Willi Hennig. Brill, Leiden 2013. ISBN 978-9-0042-1928-1, S. 86–87 (Box 5)
↑Schülerverzeichnis der Freien Schulgemeinde in Wickersdorf. In: Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein, Witzenhausen, Hessen
↑Lehrerverzeichnis der Freien Schulgemeinde in Wickersdorf. In: Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein, Witzenhausen, Hessen
↑Prof. Dr. Peter Dudek: „Versuchsacker für eine neue Jugend“. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1945. Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2009. ISBN 978-3-7815-1681-6, S. 356
↑ abSchülerbuch der Schule am Meer, Juist, Blatt 16. In: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Handschriftenabteilung, Nachlass Luserke, Martin, Signatur Cb 37
↑Gudrun Fiedler, Susanne Rappe-Weber, Detlef Siegfried (Hrsg.): Sammeln – erschließen – vernetzen: Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014. ISBN 978-3-8470-0340-3, S. 168
↑Logbuch der Schule am Meer Juist, Eintrag vom 25. März 1930. In: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Handschriftenabteilung, Nachlass Luserke, Martin, Signatur Cb 37
↑Rolf Kohring: Walter Georg Kühne, 1911-1991. In: News Bulletin of the Society of Vertebrate Paleontology. Ausg. 153 (1991), S. 46–47
↑William J. Cromie: Oldest mammal is found. In: Harvard Gazette, 24. Mai 2001
↑Zofia Kielan-Jaworowska / Richard L. Cifelli, / Zhe-Xi Luo: Mammals from the Age of Dinosaurs. Origins, Evolution, and Structure. Columbia University Press, New York 2004. ISBN 0-231-11918-6, S. 169
↑Zofia Kielan-Jaworowska: Walter G. Kühne. In: Pursuit of Early Mammals – Life of the Past. Indiana University Press, Bloomington, Indiana, 2013. ISBN 978-0-253-00824-4, S. 74–77
↑Walter Georg Kühne: The liassic therapsid Oligokyphus. British Museum (Natural History), London 1956 OCLC30187575
↑Walter Georg Kühne: Paläontologie und dialektischer Materialismus. VEB Fischer, Jena 1979, OCLC7009219