Der wie so viele frankophone Autoren zwischen Literatur und Politik pendelnde Benjamin Constant (so sein Name in der Literatur- und Geistesgeschichte) war Abkömmling einer im 16. Jh. in die Schweiz emigrierten Familie französischer Hugenotten.[1] Seine Eltern waren der schweizerische Offizier in niederländischen Diensten Louis-Arnold-Juste Constant de Rebecque (1726–1812) und dessen Ehefrau Henriette von Chandieu.
Seine Mutter starb bald nach seiner Geburt, und er verlebte (was wahrscheinlich zu seiner späteren Bindungsunfähigkeit beitrug) eine ziemlich unstete Kindheit und Jugend zunächst bei den Großeltern in der Schweiz, später als Anhängsel seines Vaters, eines offenbar sehr mobilen Berufsoffiziers, in Holland, der Schweiz, dem damals noch österreichischen Brüssel und in England, wobei er mal bessere, mal schlechtere Hauslehrer hatte.
Die jüngeren Jahre
Mit fünfzehn Jahren begann er ein Jurastudium an der Universität von Erlangen, wo er in Dienst war bei Sophie Caroline Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel. Drei Semester später, als er die Stadt wegen einer Affäre verlassen musste, zog er nach Edinburgh. Zugleich las er viel (u. a. Claude Adrien Helvétius) und begann zu schreiben, verfiel allerdings auch dem Spiel und machte Schulden. Darüber hinaus reiste er oft und hatte früh Liebesaffären. 1786 lernte er bei einem Parisaufenthalt die damals viel gelesene Autorin Isabelle de Charrière (1740–1805) kennen, eine in der Schweiz verheiratete gebürtige Holländerin, die ihm zu einer (zunächst wohl nicht nur platonischen) mütterlichen Freundin wurde und auf deren Landsitz Le Pontet bei Colombier er in den nächsten Jahren häufig kürzer oder länger weilte.
1788 wurde er Kammerherr am Hof von Herzog Karl II. von Braunschweig und heiratete ein Jahr später die Hofdame Wilhelmine von Cramm. Er hielt es aber nicht lange mit ihr aus, ging oft auf Reisen und reichte schließlich die Scheidung ein, um sich mit einer anderen, ebenfalls noch verheirateten, aber scheidungswilligen Braunschweiger Hofdame zu liieren, Charlotte von Hardenberg, die er jedoch erst 1808, nach mehreren zwischendurch eingegangenen Verhältnissen mit anderen Frauen und einer zweiten Ehe ihrerseits heiratete, ohne dass die beiden hiernach glücklich wurden.
1794 begegnete Constant in der Schweiz der anderthalb Jahre älteren Madame de Staël: Es war der Beginn einer langen, für beide Seiten nervenaufreibenden Beziehung, aus der 1797 auch eine Tochter hervorging (Albertine).
Die mittlere Zeit
1795, nach dem Ende der Schreckensherrschaft und der Etablierung des Direktoriums, begleitete Constant Mme de Staël nach Paris und begann sich dort als vielbeachteter politischer Publizist und Redner zu betätigen. Eine Bühne hierfür schuf ihm seine Geliebte mit den von ihr organisierten Treffen im Hôtel de Salm. Dieser konservative intellektuelle Zirkel wurde bald darauf als Salmklub bekannt.[2]
Nach dem Staatsstreich Napoleons von 1799 spielte er als Mitglied des Tribunats sogar eine aktive Rolle in der hohen Politik, ehe er 1802 kaltgestellt wurde. Claude Fauriel wurde ein häufiger Gast in den Salons der Madame de Staël und Benjamin Constants.[3] Seine Infragestellung der Absolutheit des Verbots der Lüge in der 1796 veröffentlichten Schrift Des réactions politiques, s. l. 1796[4] führte zu der Replik von Immanuel KantÜber ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen.
Anschließend war er wieder viel unterwegs, u. a. mit Mme de Staël, die er auf Teilen ihrer Deutschlandreise 1803/04 begleitete und die ihn, nachdem sie 1802 verwitwet war, zur Eheschließung drängte, während er sie zwischendurch immer wieder zugunsten neuer und alter Geliebten verließ und schließlich Charlotte von Hardenberg (s. o.) heiratete.
Seine schwierige psychische Situation in dieser Zeit der Trennung und des Partnerwechsels spiegelt der 1806/07 verfasste (aber erst 1817 gedruckte) Roman Adolphe, in dessen unentschlossen schwankendem Ich-Erzähler sich Constant sichtlich selbst porträtiert. In denselben Zeitraum (1807/08) fällt seine Übertragung von SchillersWallenstein in französische Verse (Druck 1808). Wohl 1811 begann er einen weiteren autobiografischen Roman, Cécile, der Fragment blieb und erst 1951 wiederentdeckt wurde. Ebenfalls 1811 begann er eine Autobiografie mit dem Titel Ma Vie („Mein Leben“), die aber nur bis zum Ende seiner Jugendzeit gelangte und erst 1907 aus dem Nachlass als Le Cahier rouge („Das rote Heft“) gedruckt wurde.
1812 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt.[5] Zwischen November 1811 bis Oktober hielt er sich in Göttingen auf, um die Universitätsbibliothek für seine Arbeit über die Religion zu nutzen und war Mitglied des Gelehrten-Clubs, einer Vereinigung von freien Professoren.[6] 1814, als nach der Niederlage Napoleons die alte Königsfamilie der Bourbonen zurückgekehrt war und Ludwig XVIII. den Thron bestiegen hatte, publizierte Constant ein Plädoyer für eine konstitutionelle Monarchie. 1815 schloss er sich Napoleon an, als dieser im März unerwartet an die Macht zurückkehrte, und entwarf in seinem Auftrag während der Herrschaft der Hundert Tage eine Appendix zur Verfassung Frankreichs. Nach der baldigen endgültigen Niederlage Napoleons (18. Juni) in der Schlacht bei Waterloo musste Constant Frankreich verlassen und verbrachte anderthalb Jahre in England.
Die späteren Jahre
1817 kehrte er nach Paris und in die Politik zurück. Er wurde in die neue Abgeordnetenkammer als Vertreter des Départements Bas-Rhin gewählt und betätigte sich dort, mehrfach wiedergewählt, als gefürchteter Parlamentsredner und Pamphletist.[7] Zugleich verfasste er bedeutende staats- und verfassungstheoretische Schriften und wurde mit ihnen zum Mitbegründer des Liberalismus, d. h. der Doktrin, dass der Staat sich möglichst wenig in die persönlichen und zumal die wirtschaftlichen Belange seiner Bürger einmischen solle und möglichst viel Initiative und Verantwortung ihnen selbst überlassen müsse. Er bzw. der Monarch habe sich auf die Rolle einer neutralen Instanz (pouvoir neutre) zurückzuziehen.
Eine vierbändige religionswissenschaftliche Abhandlung, De la religion considérée dans sa source, ses formes et ses développements (1824–31), an der Constant schon als junger Mann zu arbeiten begonnen hatte, wurde wenig beachtet und geriet bald in Vergessenheit.
Rezeption
Trotz seiner unsteten Lebensweise schrieb Constant ständig: meistens historiographische und/oder politologische oder politische Schriften und Artikel. Seinen Platz in der Literaturgeschichte verdankt er jedoch vor allem der erfolgreichen ErzählungAdolphe (geschrieben 1806/07, veröffentlicht erst 1816). Die Erzählung schildert die Geschichte eines jungen Mannes (Adolphe), der eine zehn Jahre ältere Frau (Ellénore) verführt, sich, als er merkt, dass sie ihn allzu sehr liebt und an ihn klammert, von ihr zu lösen versucht, dies aber aufgrund der vielen Opfer, die sie ihm bringt, nicht kann, dann aber doch wieder will und sie durch sein unentschlossenes Hin und Her und seine schließliche Abwendung in Krankheit und Tod treibt. Sie spiegelt offenbar eine fast pathologische Zerrissenheit des Autors selbst zwischen Bindungswünschen und Bindungsangst und ist wahrscheinlich vor allem inspiriert von seiner schwierigen Situation zwischen Mme de Staël und Charlotte von Hardenberg. Der Adolphe gilt als ein erstes Beispiel und Muster des sich im 19. Jahrhundert entwickelnden psychologischen Romans.
Werke aus dem Nachlass
Neben dem Romanfragment Cécile und der ebenfalls unvollendeten Autobiografie erschienen aus dem Nachlass Constants sein umfangreiches, eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Tagebuch (Journal intime) und seine ebenfalls sehr umfangreiche Korrespondenz mit vielerlei Briefpartnern.
Die Schriften Constants
Deutsche Übertragung
Werke. Herausgegeben von Axel Blaeschke und Lothar Gall. Deutsch von Eva Rechel-Mertens. 4 Bände. Propyläen Verlag, Berlin, 1970–1972 [Band 1–2 (1070) folgt der Pléiade-Ausgabe 1957]
De la liberté des Anciens comparée à celle des modernes (1819). Vertaald als: De waarde van vrijheid. Amsterdam: ONE Business, 2016 ISBN 978-90-352-5259-2
Norbert Campagna: Benjamin Constant. Eine Einführung. Parerga, Berlin 2003, ISBN 3-930450-85-2.
Josef Ettlinger: Benjamin Constant. Der Roman eines Lebens. Fleischel, Berlin 1909.
Lothar Gall: Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz. Steiner, Wiesbaden 1963, DNB451424220.
Arthur Ghins: “Popular Sovereignty that I Deny”: Benjamin Constant on Public Opinion, Political Legitimacy and Constitution Making. In: Modern Intellectual History, Bd. 19 (2022), Heft 1, S. 128–158 (doi:10.1017/S1479244320000311).
Kurt Kloocke: Benjamin Constant : une biographie intellectuelle, Genève : Droz, 1984,
Helena Rosenblatt: Liberal Values: Benjamin Constant and the Politics of Religion. Cambridge University Press, 2008, ISBN 978-0-511-49072-9.
Helene Ullmann: Benjamin Constant und seine Beziehungen zum deutschen Geistesleben. Ebel, Marburg 1915, DNB362922616.
Florian Weber: Benjamin Constant und der liberale Verfassungsstaat. Politische Theorie nach der Französischen Revolution. VS Verlag, Wiesbaden 2004, ISBN 3-531-14407-3.
K. Steven Vincent: Benjamin Constant and the Birth of French Liberalism. Palgrave Macmillan, New York 2016, ISBN 978-1-349-29239-4.
Peter Geiss: Der Schatten des Volkes. Benjamin Constant und die Anfänge liberaler Repräsentationskultur im Frankreich der Restaurationszeit 1814–1830 (= Pariser historische Studien. Bd. 95). Oldenbourg, München 2011, ISBN 978-3-486-59704-2.
Benjamin Constant: Von den politischen Gegenwirkungen. In: Karl Friedrich Cramer (Hrsg.): Frankreich im Jahr 1797. Altona 1797 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 2. Juli 2016] französisch: Des réactions politiques.).
↑Sein Großvater war befreundet mit Voltaire, sein Urgroßvater, Pfarrer in Coppet, mit Pierre Bayle.
↑Albert SoboulDie Große Französische Revolution, athenäum 1988 S. 481.
↑Benjamin Constant: philosophe, historien, romancier, homme d’état [1]
↑Deutsch: Von den politischen Gegenwirkungen, in: Frankreich im Jahr 1797. Aus den Briefen deutscher Männer in Paris, hg. von Karl Friedrich Cramer, Bd. 2, Altona 1797, 6. Stück, Nr. 1, S. 123–127, siehe unten unter Weblinks.
↑Holger Krahnke: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1751–2001 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, Bd. 246 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Folge 3, Bd. 50). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-82516-1, S. 60.
↑Otto Olzien: Benjamin Constant, Schriftsteller, Rede anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel am 6. Mai 1983, Jüdenstraße 12. In: Göttinger Jahrbuch 1984. Band32. Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e. V., 1984, ISSN0072-4882, S.253.