Gall studierte ab 1777 zunächst in Straßburg Medizin, dann ab 1781 unter dem Empiriker Maximilian Stoll in Wien, wo er seine Studien vollendete, 1785 promoviert wurde und bis 1805 blieb.[1] Nach Vortragsreisen durch Europa ließ er sich 1809 in Paris als praktischer Arzt nieder.[2] Mit der Phrenologie (Gallsche Schädellehre) begründete er in den folgenden Jahren die Lehre, dass das Gehirn das Zentrum für alle mentalen Funktionen sei. Außerdem trug er maßgebliche Arbeiten zur Physiognomie bei. Diese Lehre stellt dar, wie persönliche Charakterzüge bzw. Eigenschaften im Gesicht über die Mimik ablesbar sein können. Er entdeckte auch die Faserstruktur des Gehirns. Zudem erarbeitete er mit seiner Kranioskopie die Kraniometrie (Schädelvermessung), durch die sich Gall Schlüsse bezüglich der Gehirnform erhoffte. Er scheiterte jedoch mit dieser Theorie aufgrund dreier Ursachen:
Die Form des Schädels gibt nicht die Form des Gehirns wieder.
Die 27 Eigenschaften, welche Phrenologen als Basis für den menschlichen Charakter ansahen, basierten in Wirklichkeit auf willkürlich interagierenden Faktoren.
Gall setzte willkürliche und selektive Testmethoden ein.
Zu seinen hirnanatomischen bzw. kranioskopischen Untersuchungen sammelte Gall in Wien eine große Zahl von Schädeln, „meist von Irrsinnigen oder Verbrechern“, sowie viele nach der Natur geformte Gipsbüsten bekannter Personen oder von Menschen „mit besonderen Schädelbildungen“.[3]
Tournee und Erfolge
1801 wies Kaiser Franz II. einen seiner Minister an, die von Gall in dessen Wohnung abgehaltenen Privatvorlesungen, welche gegen die Grundsätze der Moral und Religion „zu schreiten“ schienen, umgehend zu unterbinden. Gall wurde 1805 aus Österreich ausgewiesen und brach dadurch zu einer Europatournee auf, die ihn über München auch durch Augsburg und Frankfurt am Main führte.[4] 1808 erreichte er Paris, wo er seine Lehre weiter zu verbreiten suchte:
„Als jüngsthin Dr. Gall das hiesige Narrenhaus, Bisetre besuchte, begleitete ihn ein Wahnsinniger, bey dem er keine Kennzeichen des Wahnsinns weder in seinen Reden, noch an seinem Schädel entdecken konnte. Er sagte es ihm. Der Wahnsinnige antwortete: Wundern Sie sich nicht, daß sie an dem Kopfe, der jetzt auf meinen Schultern sitzt, keine Kennzeichen des Wahnsinns antreffen. Es ist ein fremder Kopf, den man mir aufgesetzt hat, nachdem der meinige in der Revolutionszeit durch die Guillotine abgeschlagen worden war.“[5]
Nach anfänglicher Begeisterung des männlichen und weiblichen Publikums schlug diese nach und nach auch in öffentliche Verachtung seiner neuen Lehrtheorie um, mit der er die damalige Welt der Wissenschaft spaltete:
„Das heutige Journal de l'Empire enthält einen langen Aufsatz gegen den Dr. Gall, worinn es unter Anderm heißt: Seine Wissenschaft ist jetzt hier nicht mehr einträglich; jeden Abend ist der Saal schön beleuchtet, aber die Bänke sind leer; die wenigen Zuhörer, die er noch hat, öffnen zwar ihre Ohren, aber nicht ihre Beutel. Der Preis für die Vorlesungen ist schon sehr herab gesetzt worden, wahrscheinlich, wird man sie bald gratis besuchen können etc.“[6]
Auswirkungen
Dieser Hype zog dennoch viele Begehrlichkeiten nach Schädeln von bedeutenden Persönlichkeiten nach sich: Etliche Gräber wurden geplündert – so verschwanden die Schädel von zum Beispiel Joseph Haydn, Betty Roose und René Descartes, oder Einzelteile wie die Schädelplatte des Komponisten Gaetano Donizetti.[7] Nachdem Gall auch in Frankreich die Aufmerksamkeit des Regenten Napoleon Bonaparte erregt hatte, zog er sich um 1820 auf seinen Landsitz in Montrouge bei Paris zurück, wo er bis an sein Lebensende als Praktiker ordinierte.[3] Elemente von Galls Phrenologie gingen auch in die „Positive Schule der Kriminologie“ ein, die Cesare Lombroso in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte.
Bei Galls Weggang nach Paris blieb seine Schädel- und Büstensammlung in Wien zurück. 1824 schrieb Gall an den mit ihm befreundeten Anton Rollett in Baden bei Wien und überließ ihm auf diesem Wege die mittlerweile berühmt gewordene Sammlung für sein Museum,[3] in die nach seinem Tod auch sein eigener Schädel „einverleibt“ wurde.
Varia
Von Gall existieren drei Porträtmedaillen:
Medailleur: Abraham Abramson, Silber, 1805, 40 mm, gewidmet vom Berliner Auditorium. (Literatur: Brettauer Nr. 375, Abb. Tafel 7. Tassilo Hoffmann Nr. 208, Tafel 22)
Medailleur: Daniel Friedrich Loos, Silber, 1805, 39 mm, auf seine Vorlesungen in Berlin. (Literatur: Brettauer 374, Sommer A 124)
Medailleur: Jacques Jean Barre, Bronze, 1828, 46 mm. (Literatur: Brettauer Nr. 377. Storer Nr. 1167)
Franz Joseph Gall: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Gräffer, Wien 1791. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
H. Heintel: Leben und Werk von Franz Joseph Gall. Eine Chronik. Würzburg 1986.
Erna Lesky (Einleitung, Übersetzung und Kommentar): Franz Joseph Gall (1758–1828), Naturforscher und Anthropologe, Hubers Klassiker der Medizin und Naturwissenschaften, Bern 1979.[8]
Sigrid Oehler-Klein: Gall, Franz Joseph. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 453 f.
Erich Ebstein: Franz Joseph Gall im Kampf um seine Lehre. In: C. Singer and H. E. Sigerist: Essays on the history of medicine, presented to Karl Sudhoff on the occasion of his seventieth birthday November 26th 1923, Zürich 1924, S. 269 ff. (online)