Johann Wilhelm Ludwig Gleim (* 2. April1719 in Ermsleben; † 18. Februar1803 in Halberstadt) war ein Dichter, Literaturmäzen und Sammler der deutschen Aufklärung und Exponent der Freundschaftskultur der Aufklärung. Als Anakreontiker „deutscher Anakreon“ genannt, nannte man ihn als patriotischen Dichter gemäß der Verfasserfiktion seiner Kriegslyrik „preußischer Grenadier“. Als Literaturförderer und Patriarch der deutschen Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts war er auch unter dem Namen „Vater Gleim“ bekannt.
Gleim war das achte von zwölf Kindern eines aus der Altmark stammenden Steuereinnehmers und dessen Frau, einer Pfarrerstochter aus Wermelskirchen im Bergischen Land. Er wuchs in Ermsleben auf, erhielt eine Schulausbildung am Gymnasium in Wernigerode und verlor früh beide Eltern. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Halle (1738–1741) und einem längeren Aufenthalt bei Verwandten ging er 1743 nach Potsdam und später nach Berlin, wo er Hauslehrer wurde. 1743/44 wurde er Sekretär des Markgrafen Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Schwedt und begleitete diesen in den 2. Schlesischen Krieg. Nach dem Tod seines Dienstherrn war Gleim kurzzeitig Sekretär des Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau. Von dessen Grobheit abgestoßen, verließ er diesen Dienst bald wieder und hoffte auf eine Verbesserung seiner Lage.
1747 wurde Gleim Domsekretär des Domstifts in Halberstadt. 1756 erwarb er sich zur weiteren finanziellen Absicherung ein Kanonikat des Stiftes Walbeck bei Halberstadt. Seine Tätigkeit am Dom übte er fünfzig Jahre lang aus und starb unverheiratet in Halberstadt, vollständig erblindet, als wohlhabender Bürger, bekannter Dichter, einflussreicher Sammler, Förderer und Vermittler. Gemäß seinem Wunsch wurde er in seinem Garten an der Holtemme beigesetzt.[1]
Werk
In seiner Studienzeit schloss Gleim dichterische Freundschaft mit Johann Peter Uz, Johann Nikolaus Götz und Paul Jacob Rudnik, mit denen er die so genannte „Zweite Hallesche Dichterschule“ bildete. Auf wesentliche Anregungen von den Halleschen Ästhetikern Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier und unter Rückgriff auf die antiken Anakreonteen wurde versucht, einen leichten Ton in die deutsche Dichtung zu bringen. Gleims „Versuch in Scherzhaften Liedern“ (1744/1745) – reimlose Dichtung über den heiteren Lebensgenuss – nimmt hierbei eine herausragende Stellung ein. Der Lyrikband steht am Anfang der literarischen Mode der Anakreontik, die denn auch insbesondere von Gleim als dem ‚deutschen Anakreon‘ verkörpert wurde.
Einen weiteren Höhepunkt an Popularität erlangte Gleim während des Siebenjährigen Krieges als Verfasser von Preußischen Kriegsliedern, die auf der Fiktion basierten, es berichte ein Grenadier vom Kriegsgeschehen. Vertont wurden diese Gedichte Gleims von dem Berliner Juristen und Musikliebhaber Christian Gottfried Krause, aber später auch von Telemann und Schubart. In Verwendung der englischen Chevy-Chase-Strophe fand Gleim einen eingängigen Ton. Für die zunächst nur handschriftlich in Briefen an Freunde mitgeteilten Gedichte besorgten Lessing und Ewald Christian von Kleist 1758 eine Buchausgabe.[2] In dem lobenden Vorbericht nennt Lessing den Dichter „unsern neuen preußischen Barden“.[3]
Anerkennung fand Gleim auch als Fabeldichter. Mit seinen veröffentlichten Briefen trug er dazu bei, einen neuen „natürlichen“ Briefstil zu entwickeln. Mit seinem gründlichen formgeschichtlichen Bewusstsein beschäftigte sich Gleim ferner mit den verschiedensten literarischen Gattungen und wirkte vielfach als Vorläufer und Vorbereiter. Zu nennen sind seine Romanzen, die Nachahmungen und Übertragungen der Minnesänger und die Lehrdichtung, die er zumeist im Privatdruck erscheinen ließ. Singulär in seinem Schaffen wie auch innerhalb der Literatur der Aufklärung steht seine große orientalisierende Spruchdichtung „Halladat oder Das rothe Buch“, die von der Lektüre des Koran angeregt war. Das 1774 erschienene Werk wurde zunächst insbesondere von den Intellektuellen wahrgenommen und geschätzt, wurde ins Dänische und Schwedische übersetzt und erlebte mehrere Auflagen.[4]
Die anakreontischen Dichtungen Gleims verfielen wie die Anakreontik überhaupt später dem Verdikt der Gehaltlosigkeit, gesellschaftlichen Irrelevanz und Abgeschmacktheit, das sich bis heute stereotyp hält, obwohl seit dem späteren 20. Jahrhundert nachdrücklich deren ethischer Gehalt und sozialpsychologische Funktion dargelegt wurden. Die patriotischen Dichtungen wurden nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs als martialisch und chauvinistisch abgelehnt und nur vereinzelt ihrer literarischen Qualität nach gewürdigt.
Auch Gleims Leistungen in anderen literarischen Gattungen erfuhren in der Literaturgeschichte meist eine negative Bewertung, da man seine Werke „immer wieder rückwirkend aus der Kenntnis derjenigen Dichtungen des späteren 18. Jahrhunderts beurteilt, die heute ohne Zweifel als die Höhepunkte der jeweiligen Gattungen gelten müssen.“[5]
Zur Erinnerung an Gleim wurde der Gleim-Literaturpreis, ein deutscher Kulturpreis, der seit 1995 vom Förderkreis Gleimhaus vergeben wird, nach ihm benannt. Des Weiteren wurden nach ihm in Berlin der Gleimtunnel, das Gleimviertel sowie die Gleimstraße benannt.
Mäzenatentum
Ein wesentliches Projekt Gleims und weiterer Dichter seiner Generation war in der Entwicklung der deutschen Literatur die Etablierung des Deutschen als Literatursprache (der Ignoranz Friedrichs II. von Preußen zum Trotz, den Gleim ansonsten enthusiastisch verehrte). Mit diesen Bestrebungen ging im Falle Gleims ein ausgreifendes Mäzenatentum einher. Er beeinflusste zahlreiche Dichterbiografien zum Teil maßgeblich, so etwa diejenigen von Johann Heinrich Voß, Johann Gottfried Seume, Jean Paul, Johann Benjamin Michaelis und Wilhelm Heinse.[6]
Gleim war ein akribischer Sammler der literarischen Kultur der Aufklärung. Nach seinem Umzug von Berlin nach Halberstadt ließ er die zurückgelassenen Freunde in lebensgroßen Brustbildern porträtieren. Durch die Jahrzehnte hindurch kamen Bildnisse weiterer Freunde hinzu. Gleim selbst sprach von seiner Galerie als von seinem "Tempel der Freundschaft und der Musen". Später weitete er die Konzeption auf verdiente Persönlichkeiten der Zeit aus. So wuchs die Sammlung auf rund 150
Bildnisse und damit zur größten Porträtgalerie der deutschen Aufklärung an.
Zu der Sammlung seiner Korrespondenzen mit über 500 Persönlichkeiten zumeist der deutschen Literaten- und Gelehrtenwelt fügte Gleim ab den 1770er Jahren Nachlässe bzw. Vorlässe befreundeter Dichter hinzu und legte somit das erste Literaturarchiv in Deutschland an. Daneben baute er eine respektable Bibliothek auf, deren besonderen Schatz die große Anzahl von Widmungsexemplaren befreundeter Autoren darstellt.
Nachlass und Museum
Gleims Sammlungen sind im Gleimhaus, das 1862 als viertes Dichtermuseum in Deutschland in seinem einstigen Wohnhaus am Halberstädter Dom eröffnet wurde, weitgehend erhalten. Die Institution versteht sich als „Museum der deutschen Aufklärung“.
Werke (Auswahl)
Versuch in Scherzhaften Liedern, 2. Tle, Bln. 1744-1745
Freundschaftliche Briefe [hrsg. zus. mit S. G. Lange], Bln. 1746
J.W. L. Gleim’s sämmtliche Werke. Erste Originalausgabe [...] hrsg. von W. Körte, 8 Bde. Halberstadt 1811-1813 u. 1841.
Preußische Kriegslieder, neu hrsg. von A. Sauer, in: Deutsche Literatur-Denkmale IV, o. O. 1884.
Briefwechsel zwischen Gleim und Heinse, hrsg. von C. Schüddekopf, 2 Bde. Weimar 1894-1896.
Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, hrsg. von C. Schüddekopf, Tübingen 1899 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart; 218).
Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, 2 Bde. [Bd. 3 nicht ersch.], Tübingen 1906-1907 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart; 242; 244).
Versuch in Scherzhaften Liedern, hrsg. von A. Anger, Stg. 1964.
„Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Hrsg. von Regina Nörtemann und Ute Pott, 2 Bde., Göttingen 1996.
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Hg. v. Walter Hettche, Göttingen 2003 (Schriften des Gleimhauses 1).
Literatur
W. Körte: Johann Wilhelm Ludewig Gleims Leben. Aus seinen Briefen und Schriften. Halberstadt 1811.
H. Mohr: „Freundschaftliche Briefe“ – Literatur oder Privatsache? Der Streit um Wilhelm Gleims Nachlaß. In Jb. d. Fr. Dt. Hochstifts, 1973, S. 14–75.
G. Frühsorge: Freundschaftliche Bilder. Zur historischen Bedeutung der Bildnissammlung im Gleimhaus zu Halberstadt. In: Theatrum Europaeum. Festschr. für Elida Maria Szarota. Mn. 1982, S. 429–452.
B. Hanselmann: Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Freundschaften oder Der Weg nach Arkadien. Bern u. a. 1989 (Europ. Hochschulschr.: Reihe 1; 1133)
Ute Pott: Briefgespräche. Über den Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Mit einem Anhang bislang ungedruckter Briefe aus der Korrespondenz zwischen Gleim und Caroline Luise von Klencke. Diss. Berlin 1995, Göttingen 1998.
G. A. Bürger und J. W. L. Gleim. Hrsg. von H.-J. Kertscher, Tübingen 1996 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 3)
Gerlinde Wappler: „Sie sind ein ungestümer Freund“. Menschen um Gleim I. Mit einem Beitrag von David Lee zu Karl Wilhelm Ramler. Oschersleben 1998.
Gerlinde Wappler: „Leben Sie wohl, gelieber Vater“. Menschen um Gleim II. Oschersleben 2000.
Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Porträts des 18. Jh. Bearb. von H. Scholke. Mit einem Essay von W. Adam. Leipzig 2000, 2. Aufl. 2004.
Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Ausst.-Kat. Gleimhaus Halberstadt, hg. v. Ute Pott, Göttingen 2004 (= Schriften des Gleimhauses Halberstadt. 3)
Ute Pott: Johann Wilhelm Ludwig Gleims Archiv der Freundschaft. In: Klaus Manger, Ute Pott (Hg.): Rituale der Freundschaft. Heidelberg 2006 (Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800.Ästhetische Forschungen, 7), S. 233–245.
Doris Schumacher: Ein Tempel für die Freundschaft. Gleims Porträtsammlung in Halberstadt vor dem Hintergrund der Denkmalsgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Klaus Manger und Ute Pott (Hg.): Rituale der Freundschaft. Heidelberg 2006 (Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800.Ästhetische Forschungen, 7), S. 247–262.
Reimar F. Lacher: „Wer’s sieht, der hört es reden“. Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. In: Leuchtfeuer. 20 Kulturelle Gedächtnisorte. Hg. v. Hanna Delft von Wolzogen, Volker Probst und Gabriele Rommel. o. O. 2009, S. 54–63.
Diana Stört: Johann Wilhelm Ludwig Gleim und die gesellige Sammlungspraxis im 18. Jahrhundert. Hamburg 2010 (= Schriften zur Kulturgeschichte, 19.)
Von Mensch zu Mensch. Porträtkunst und Porträtkultur der Aufklärung. Ausst.-Kat. Gleimhaus Halberstadt, hg. v. Reimar F. Lacher, mit Beiträgen von Helmut Börsch-Supan und Doris Schumacher. Göttingen 2010. (= Schriften des Gleimhauses Halberstadt, 7.)
Annegret Loose: „Gleimii et amicorum!“. Die Bibliothek Johann Wilhelm Ludwig Gleims und seiner Freunde. In: Lesewelten – historische Bibliotheken. Büchersammlungen des 18. Jahrhunderts in Museen und Bibliotheken in Sachsen-Anhalt. Hg. v. Katrin Dziekan. Halle/S. 2011 (Sachsen-Anhalt und das 18. Jahrhundert, 3) S. 90–109.
↑Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier. Berlin 1758 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – das Zitat steht auf der vorletzten Seite der Vorrede, die ohne Seitenzahlen ist).
↑Walter Hettche: Nachwort. In: Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Hg. v. Walter Hettche, Göttingen 2003 (Schriften des Gleimhauses 1), S. 583–609
↑Walter Hettche: Nachwort. In: Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Hg. v. Walter Hettche, Göttingen 2003 (Schriften des Gleimhauses 1), S. 599
↑Ute Pott: Eintrag "Gleim, Johann Wilhelm Ludwig" in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, 2002.
↑Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Ausst.-Kat. Gleimhaus Halberstadt, hg. v. Ute Pott, Göttingen 2004 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 3)