Brodsky ist in Leningrad als Sohn jüdischer Eltern geboren und aufgewachsen, worüber er in seinen Erinnerungen an Petersburg berichtete. Brodsky war ein Einzelkind. Sein Vater Alexander Brodski war ein Fotograf, der im Krieg eine Chronik über die Leningrader Blockade erstellte. Nach dem Krieg diente er als Kapitän 3. Ranges bei der Marine. Die Mutter Marija Moissejewna Wolpert arbeitete im Krieg als Dolmetscherin und half, Informationen von Kriegsgefangenen zu übersetzen. In der Nachkriegszeit war sie als Buchhalterin angestellt.
Joseph Brodsky hatte seinen Vornamen nach Josef Stalin erhalten. Er verließ die Schule in der neunten Klasse, im Alter von 15 Jahren, und nannte den vorzeitigen Schulabgang „seinen ersten freien Willensakt“.[1] In der Folge arbeitete er unter anderem als Fräser, Labor- und Fabrikarbeiter, Krankenhausangestellter und Teilnehmer an geologischen Expeditionen, während deren er zwischen 1957 und 1960 große Teile der Sowjetunion kennenlernte. Im Selbststudium erlernte er Polnisch und Englisch und schrieb Ende der 1950er Jahre erste Gedichte. Daneben arbeitete er an Übersetzungen ausländischer Gedichte. Sowohl eigene Texte als auch Übersetzungen konnte er ab 1960 in einigen Zeitschriften veröffentlichen.
Im November 1963 erschien in einer Leningrader Zeitung ein Artikel, in dem Brodsky nicht nur „Parasitentum“ vorgeworfen wurde, sondern auch behauptet wurde, er hätte die Entführung eines Flugzeugs geplant, um damit ins Ausland zu gelangen. In der Folge wurde er 1964 wegen „Parasitentums“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, aber bereits nach 18 Monaten, die er in der Gegend von Archangelsk verbringen musste, entlassen. Eine Niederschrift der Gerichtsverhandlung hatte Frida Wigdorowa verfasst und im Samisdat veröffentlicht.[2]
Am 5. Juni 1972 bürgerten die Behörden Brodsky aus der Sowjetunion aus und setzten ihn, nachdem ihm zuvor alle Manuskripte abgenommen wurden, in ein Flugzeug nach Wien. Brodsky kam „mit einem Koffer und 50 Dollar in der Tasche in Wien an“. Dort nahm sich der US-amerikanische Dichter W. H. Auden, der die Sommermonate in Kirchstetten verbrachte und „dessen Lyrik Brodsky bereits in Leningrad bewunderte“, seiner an. Für den 32-jährigen Schriftsteller begann so „das Abenteuer“ USA.[3]
Am 24. Mai 2015 wurde in der Wohnung in Sankt Petersburg, in der Joseph Brodsky in seiner Jugend wohnte, anlässlich des 75. Geburtstages das Joseph-Brodsky-Museum für einen Tag eröffnet. Die Restaurierungsarbeiten werden voraussichtlich noch einige Jahre andauern, da dort 32 unterschiedliche Schimmelarten entdeckt wurden.[4][5]
Es gibt ein Kurzessay von Brodsky, in dem er die Lebensverhältnisse in der damaligen Kommunalka (Gemeinschaftswohnung mehrerer Familien) beschreibt. Brodsky lebte bis 1972 in dieser Wohnung, die Familie hatte zwei Zimmer. An Originalmöbeln sind ein Tisch und eine Schreibmaschine erhalten.[6]
Werk
Neben seinem vorrangig lyrischen Werk ragt ein stark essayistisch ausgearbeiteter Roman empor: Die Erinnerungen an Petersburg. Darin setzt er sich als Exilant in New York mit dem kollektiven Unbewussten der Russen auseinander. Er schreibt über das Böse, mit dem man sich in Russland zu arrangieren wisse: „… Guten Tag, ich bin das Böse, wie geht es Ihnen …“ Brodsky hinterfragt schon als Kind die sozialistische Planung, begegnet in seiner Jugend autoritären Lehrern, dann die ebenso autoritären Vorarbeiter in der Produktion und weniger schlimm die Aufseher im Gefängnis. Jeder hat das Zeug zum Henker und jeder kann im nächsten Moment Opfer sein. Er greift dabei auch das Thema des tief verwurzelten Antisemitismus auf, mit dem er schon in der Grundschule zu kämpfen hatte; beispielsweise bekam er keine Ausleihkarte für die Schulbibliothek. Wohnraumknappheit, beengte Räume und dazu die Schönheit einer Stadt mit ihren Palästen sind beschrieben. Zu Brodskys literarischen Vorbildern zählen unter anderem Ossip Mandelstam, John Donne, Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa und W. H. Auden. Brodsky übersetzte auch Gedichte. Er schrieb in russischer Sprache Gedichte und in englischer Sprache Prosa, Essays und seltener auch Gedichte.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion trat Brodsky mit stark nationalistischen Gedichten öffentlich auf. Nach der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde etwa sein – von ihm nicht publiziertes, aber öffentlich vorgetragenes – SchmähgedichtÜber die Unabhängigkeit der Ukraine (russischНа независимость Украины) immer wieder von staatsnahen russischen Medien aufgegriffen[7][8][9][10] und zum Gedicht des Jahres erklärt.[11]
Werke (Auswahl)
Ausgewählte Gedichte. Bechtle Verlag, München 1966
Einem alten Architekten in Rom. Gedichte. R. Piper Verlag, München 1978
Römische Elegien und andere Gedichte. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1985
Erinnerungen an Petersburg. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1987. Titel der Originalausgabe: Less Than One: Selected Essays. Farrar, Straus & Giroux, New York 1986[12]
Flucht aus Byzanz. Essays. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1988
Ufer der Verlorenen. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1991
An Urania. Gedichte. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1994
Von Schmerz und Vernunft. Über Hardy, Rilke, Frost und andere. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1996
Haltestelle in der Wüste. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997
Der sterbliche Dichter. Über Literatur, Liebschaften und Langeweile. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1998
Weihnachtsgedichte. Carl Hanser Verlag, München/Wien 2004
Brief in die Oase. Hundert Gedichte. Carl Hanser Verlag, München/Wien 2006
Literatur über Joseph Brodsky (Auswahl)
Isolde Baumgärtner: Wasserzeichen. Zeit und Sprache im lyrischen Werk Iosif Brodskijs. Böhlau, Köln 2007, ISBN 978-3-412-14106-6.
Alexandra Berlina: Brodsky Translating Brodsky. Bloomsbury, New York 2014 (Anna Balakian Prize 2013–2016)