Die Schulausgangsschrift (seit 1991 „SAS“) ist eine verbundene Schreibschrift. Sie wurde 1968 vom Ministerium für Volksbildung der DDR im Rahmen eines neuen Lehrplanwerks als Erstschrift für alle Schulanfänger der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule verbindlich eingeführt.
Die vereinfachte Vorlage für das Schreibenlernen löste die Ausgangsschrift der DDR von 1958 ab.[1] Anlass für die Veränderung waren sowohl didaktische Erfordernisse als auch ästhetische Gründe. Seit 1961 hatten Elisabeth Kaestner und Renate Tost mit der Entwicklung und Erprobung verschiedener Alphabetvarianten in Schulversuchen entsprechende Voraussetzungen für diese Maßnahme geschaffen.
Den Anstoß für Veränderungen der Ausgangsschrift gab Albert Kapr (Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig). Er hatte 1957 Bekanntschaft mit Vertretern der Society for Italic Handwriting gemacht.[3] Unter seinem Einfluss entwickelte Renate Tost 1960 zunächst ein altersunabhängiges Schönschreibheft.[4][5] Zugleich bewertete sie die Schreibschrift-Vorlage von 1958 kritisch und intervenierte mit Unterstützung von Albert Kapr beim Ministerium für Volksbildung mit dem Ziel, eine Vereinfachung der Schreibvorlage herbeizuführen.[6]
Zeitgleich zu den Bemühungen der Hochschule für Grafik und Buchkunst untersuchte die in der DDR führende Schreibdidaktikerin, Elisabeth Kaestner,[7] tätig am Institut für Lehrerbildung „Edwin Hoernle“ in Radebeul (Ausbildungsstätte für Lehrer der Klassen 1 bis 4), die Geläufigkeitsentwicklung beim Schreibenlernen. Beide Projekte wurden ab 1961 durch Forschungsaufträge zusammengeführt. Die Zusammenarbeit von Pädagogin und Schriftgrafikerin war von einer engen fachlichen und fachdidaktischen Durchdringung des Gegenstandes geprägt. Mehrere Alphabetvarianten wurden entwickelt und erprobt.[8]
Entwicklung der Schulausgangsschrift 1968
Großbuchstaben
1958: verschnörkelte Großbuchstaben
1968: vereinfachte Großbuchstaben
Die Großbuchstaben (Majuskel) in der alten Schreibschrift-Vorlage (Ausgangsschrift der DDR seit 1958 verbindlich) waren mit Schwüngen und Schleifen (Relikte der englischen Schreibschrift aus dem 18./19. Jahrhundert) versehen. Sie erschwerten nicht nur die motorische Aneignung der Figuren, sondern behinderten eine annähernd formgerechte Automatisierung der Schreibbewegungen im fortschreitenden Lernprozess. Darüber hinaus schränkten sie durch ihre detaillierten Formen die Möglichkeiten für eine ästhetisch akzeptable Individualisierung ein.
In der Schulausgangsschrift 1968 wurden die Großbuchstaben im Wesentlichen auf ihre unterscheidenden Merkmale reduziert. In einigen Fällen wurden Zugeständnisse an eine einzügige Bewegungsausführung gemacht.
Kleinbuchstaben
1958: breite Bogen (a) und lange Deckstriche (b)
1968: dynamische Gestaltung der Kleinbuchstaben
Die Kleinbuchstaben (Minuskel) der alten Schriftvorlage waren in ihrer Grundstruktur darauf abgestimmt, dass die Kinder zunächst „drucken“ sollten, d. h. die Buchstaben der Fibelschrift (in der DDR die Gill Sans) nachmalten. Diese Elemente wurden in die Vorlage für die nachfolgende Schreibschrift übernommen.
Die statisch aufgebauten Minuskeln der alten Schriftvorlage hatten breite Bogen und lange Deckstriche. Damit wurden Bewegungsmuster eingeübt, die der Entwicklung einer rhythmischen und damit ergonomischen Schreibbewegung entgegenstanden.[9] Das führte im Verlauf der Automatisierung und Individualisierung der Bewegungen häufig zu Verformungen, die sich in ihrem infantilen Charakter teilweise bis in Erwachsenenschriften erhielten.
Die Anlage der Schulversuche war von Anfang an darauf ausgerichtet, beim Schreibenlernen sofort mit der verbundenen Schreibschrift beginnen zu können.
In der Schulausgangsschrift 1968 wurden die Kleinbuchstaben dynamischer gestaltet. Die Bewegungsumkehr in den Bogen (a) wurde verjüngt, die Deckstriche (b) verkürzt. Dadurch konnte dem Auf-ab-auf-Rhythmus in der flüssigen Bewegungsausführung besser Rechnung getragen werden.
Buchstabenverbindungen
Die Verbindungsmöglichkeiten von Buchstaben (Außenligatur) wurden nicht verändert, sondern lediglich gestrafft. Das betraf insbesondere den Formenabschluss bei den Figuren b, o, v, w und x. Bei den vereinfachten Großbuchstaben A, F und H wurde die Verbindung von der Mittelhöhe aus vollzogen.
Begleitende didaktische Hilfen
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Schulausgangsschrift wurde ein differenziertes und umfassendes Konzept der Vermittlung der verbundenen Schreibschrift ohne den Umweg über das sogenannte Drucken erarbeitet. Erstmals wurde ein systematischer Schreiblehrgang für Schüler mit drei Übungsheften für die Klassen 1 bis 2,[10] Unterrichtshilfen für die Lehrer[11] und eine Handreichung[12] entwickelt.
Varianten der Schulausgangsschrift
Nach der Umsetzung der wesentlichsten Veränderungen in der Schreibvorlage von 1968 engagierten sich die Autorinnen für eine systematisch und kontinuierlich angelegte Schreiberziehung in der Schule. 1969 wurde die Gleichstrich-Kursiv, eine Form der Weiterentwicklung der Schulausgangsschrift, als „Beschriftungsform“ in den Lehrplan Schreibunterricht Klasse 2 aufgenommen.
Die Weiterführung der Schulausgangsschrift zur Antiqua-Kursiv als Schulschrift-Kursiv im Kunstunterricht Klasse 4 und 5 erfolgte 1972/73.[13][14] Da die Kursiv-Schrift in dem Fach Kunsterziehung keine Tradition hatte und die materialtechnischen Bedingungen (ungünstige Federhalter, Breitfedern und Tusche) einem Übungserfolg von vornherein im Wege standen, wurde sie 1987 aus dem Lehrplan entfernt.
Die Schulausgangsschrift nach 1989
Nach der Wiedervereinigung stand die Schulausgangsschrift, nun als SAS, neben den beiden Schreibschriften der alten Bundesländer, der LA (Lateinische Ausgangsschrift) und der VA (Vereinfachte Ausgangsschrift) für den Schreibunterricht in den deutschen Schulen zur Disposition.[15][16] 1996 befand der Arbeitskreis Grundschule in seinen Empfehlungen zur Neugestaltung der Primarstufe „Die Zukunft beginnt in der Grundschule“ über die SAS: „Sie steht in der Tradition der europäischen Schriftkultur (,Humanistische Kursive‘) und genießt – im Gegensatz zur Vereinfachten Ausgangsschrift – auch die Anerkennung der Internationalen Typografischen Vereinigung.“[17] 2014 wurde die Schulausgangsschrift in Bayern zugelassen.[18]
Walter Bergner: Fundierte Förderung der Schriftkultur. Zum Bemühen des Leipziger Instituts für Buchkunst um Schulschrift und Kalligraphie. Sonderdruck aus: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, 7, 1997, ISBN 3-447-03938-8, S. 223–244.
Jürgen Hasert: Schulschriften. In: Didaktik der deutschen Sprache, Bd. 1. Schöningh, Paderborn 2006, ISBN 978-3-8252-8235-6, S. 314 und 316.
Elisabeth Kaestner: Der Unterricht in der Disziplin Schreiben. In: Werner Hagemann (Hrsg.): Der Unterricht in den unteren Klassen – Ziele, Inhalte, Methoden. Volk und Wissen, Berlin 1975, S. 209–235.
Elisabeth Kaestner, Renate Tost: Schreibunterricht. Verlag Volk und Wissen, Berlin 1977, S. 19–48. 9. Auflage 1986, pedocs.de (5.498 kB).
Albert Kapr: Schriftkunst. Geschichte, Anatomie und Schönheit der lateinischen Buchstaben. Verlag der Kunst, Dresden 1971, ISBN 3-364-00624-5, S. 318 f.
Albert Kapr: Ästhetik der Schriftkunst. Thesen und Marginalien. Fachbuchverlag, Leipzig 1977, S. 86–87 u. S. 100.
Albert Kapr: Über die Verbesserung der Schulausgangsschrift in der DDR. In: Albert Kapr: Schrift- und Buchkunst. Aufsätze, Reden, künstlerische Arbeiten. Fachbuchverlag, Leipzig 1982, S. 141–147.
Elisabeth Neuhaus-Siemon: Aspekte und Probleme des Schreibunterrichts. In: Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 2. Halbband, Berlin / New York 1996, ISBN 978-3-11-019413-5, S. 1245–1246.
Jakob Ossner: Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung für Studierende. 2. überarbeitete Auflage. Schöningh, Paderborn u. a. 2008, ISBN 978-3-506-75630-5, S. 140f. (UTB. Pädagogik, Sprachwissenschaft 2807, Standardwissen Lehramt).
Wilhelm Topsch: Grundkompetenz Schriftspracherwerb. Methoden und handlungsorientierte Praxisanregungen. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Beltz, Weinheim u. a. 2005, ISBN 3-407-25368-0, S. 113f.: 6. Anfangsschriften (=Studientexte für das Lehramt 5, Beltz-Pädagogik).
Renate Tost: Die Schrift in der Schule. Ein Beitrag zur Perspektive der Schreiberziehung in der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule. Institut für Buchgestaltung, Leipzig 1968.
Renate Tost, Elisabeth Kaestner: Die Schulausgangsschrift in der Praxis. In: Sprachpflege: Zeitschrift für gutes Deutsch. Nr. 7, 1969, S. 143–145, pedocs.de (2.682 kB).
Renate Tost: Vom Reiz der Norm. Stilmerkmale der Schulausgangsschrift. In: Die Grundschulzeitschrift, Jg. 57, 1992, S. 8–10, pedocs.de (2.643 kB).
Renate Tost: Gestaltungsprinzipien der Schulausgangsschrift. Ästhetische Kompetenz beim Schreiben entwickeln. In: Die Grundschulzeitschrift 27 (2013). (Im digitalen Angebot von pedocs, Dokumentenserver des Fachportals Pädagogik[2]).
Renate Tost, Frank Ortmann: Schreibenlernen mit der Hand bildet Formsinn und Verstand: Gestalterische Grundlagen der Schulausgangsschrift, Verlag Dr. Dieter Winkler, Bochum 2021, ISBN 978-3-89911-288-7.
↑Julia Blume, Fred Smeijers: Ein Jahrhundert Schrift und Schriftunterricht in Leipzig. Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig 2010, ISBN 978-3-932865-57-2, S. 43 und 185–187.
↑Renate Tost: Zur Entwicklung der vereinfachten Schulausgangsschrift der DDR 1968. Dresden 2008, Tafel 3, qucosa.de (Memento des Originals vom 19. März 2013 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.qucosa.de (PDF; 5,8 MB).
↑Renate Tost: Vom Reiz der Norm. Stilmerkmale der Schulausgangsschrift. S. 8–10, pedocs.de (2.643 kB).
↑Renate Tost: Zur Entwicklung der vereinfachten Schulausgangsschrift der DDR 1968qucosa.de (Memento des Originals vom 19. März 2013 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.qucosa.de (PDF; 5,8 MB). Dresden 2008, Tafel 7.
↑Elisabeth Kaestner: Der Unterricht in der Disziplin Schreiben. In: Unterrichtshilfen Deutsch/Mathematik 1. Klasse zum Lehrplan 1968. Verlag Volk und Wissen, Berlin 1974, S. 161–170.
↑Elisabeth Kaestner, Renate Tost-Ruddigkeit: Probleme und Methoden der Schreiberziehung. Verlag Volk und Wissen, Berlin 1966.
↑Renate Tost: Klasse 4 – Zur Einführung der Schulschrift-Kursiv. S. 9–11, pedocs.de (3.450 kB).
↑Renate Tost: Die Schulschrift-Kursiv. In: Robert Kuhn (Hrsg.): Schriftgestaltung, Schriften zur Kunsterziehung. Bd. 22, Berlin 1971, S. 46–60.
↑Mechthild Dehn: Anstoß für Veränderungen. Die Schulausgangsschrift. In: Die Grundschulzeitschrift, Sonderheft (1991), Friedrich Verlag, Seelze, S. 3.
↑Albrecht Frede: Vereinigte Ausgangsschrift. Zur Diskussion um die Ausgangsschrift nach der Wiedervereinigung. In: Die Grundschulzeitschrift, 48 (1991), Seelze, S. 32–35 und 58 f.
↑Gabriele Faust-Siehl, Ariane Garlichs u. a.: Ausgangsschrift. In: Die Zukunft beginnt in der Grundschule. Arbeitskreis Grundschule. Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg 1996, ISBN 978-3-499-60156-9, S. 83–85.
↑LehrplanPLUS Grundschule, Lehrplan für die bayerische Grundschule [1], S. 48, 158 u. 321.