Sozialversicherungen werden je nach Staat oder Versicherungszweig von staatlichen Institutionen, öffentlich-rechtlichen Körperschaften oder privaten Körperschaften betrieben. Sie wurden zumeist in der zweiten Hälfte des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts (Beginn der Großindustrie) ins Leben gerufen.
In Deutschland bildet die Sozialversicherung eine staatlich eng geregelte Fürsorge für wichtige Risiken des Daseins, die von selbstverwalteten Versicherungsträgern organisiert wird. Der Leistungsbedarf eines Jahres wird nahezu vollständig aus dem Beitragsaufkommen des gleichen Jahres bestritten, d. h., angesammeltes Kapital dient im Wesentlichen nur als kurzzeitige Schwankungsreserve (Nachhaltigkeitsrücklage, Generationenvertrag).
„Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“
– Otto von Bismarck: Gesammelte Werke (Friedrichsruher Ausgabe) 1924/1935, Band 9, S. 195/196
Damit sollte einerseits sozialen Unruhen und dem Sozialismus begegnet werden, andererseits sollte bereits bestehenden, freiwilligen Sozialversicherungen der Gewerkschaften und der kirchlichen Arbeiterverbände die wirtschaftliche Grundlage entzogen werden. Bismarck hatte sich für eine obligatorische Versicherung aller Arbeitnehmer unter staatlicher Aufsicht ausgesprochen.[2]
Bei der gesetzlichen Sozialversicherung besteht Versicherungspflicht, um eine Auslese nach Personen mit hohen und niedrigen Risiken (z. B. Gesunde und Kranke) zu vermeiden und teilweise auch einen solidarischen Ausgleich unter den Versicherten unabhängig von der Höhe der geleisteten Beiträge zu erzielen.[3] Es werden auch solche Personen einbezogen, die ansonsten aufgrund ihres niedrigen Einkommens oder hoher Risiken keinen anderweitigen Schutz, zum Beispiel durch eine private Versicherung, erlangen könnten.
Das System der Sozialversicherung ist wesentlicher Bestandteil der staatlichen Organisierung sozialer Sicherheit. Der Staat delegiert dabei Aufgaben an die Selbstverwaltung der Sozialversicherung (Subsidiarität).
Die Auszahlung orientiert sich nach erworbenen Ansprüchen (z. B. bei Renten oder Krankengeld) oder es gibt für alle gleiche Sachleistungen bei Eintritt des Versicherungsfalles.
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung
In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) bildet die gesetzliche Sozialversicherung zusammen mit den Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden) den Sektor Staat. Der Finanzierungssaldo der gesetzlichen Sozialversicherung in Abgrenzung der VGR im Unterschied zur Abgrenzung der Finanzierungsrechnung geht damit in den Finanzierungssaldo des Staates insgesamt ein. Der Finanzierungssaldo des Staates insgesamt in der VGR ist Gegenstand der „Maastrichtkriterien“.
In Österreich bildet die Sozialversicherung am Budget gemessen die wichtigste und kostenintensivste Institution der sozialen Sicherung, und es besteht weitgehend Pflichtversicherung. Zu einer ersten gesetzlichen Regelung der Sozialversicherung kam es 1889; sie wird heute weitgehend durch das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) geregelt.
In der Schweiz bildet die Sozialversicherung die wichtigste Institution der sozialen Sicherung, und es besteht weitgehend Versicherungspflicht. Die gesetzlichen Versicherungen in der Schweiz werden durch das Drei-Säulen-System geregelt – erstens einer obligatorischen Versicherung der gesamten Bevölkerung, zweitens Versicherungen für die berufstätige Bevölkerung und drittens die freiwillige, individuelle private Vorsorge. (Siehe auch Lohnnebenkosten Schweiz)
In Deutschland, Österreich und der Schweiz gehören neben den Versicherungsleistungen im engeren Sinn auch Prävention und Rehabilitation zu den Aufgaben der Sozialversicherung.
Die Sozialsysteme innerhalb der EU weisen deutliche Unterschiede auf. Beispielsweise finanziert die Sozialversicherung in Schweden unter anderem ein Elterngeld.
Zwischenstaatliche Abkommen über soziale Sicherheit sollen insbesondere Personen mit grenzüberschreitender Erwerbstätigkeit in zwei Staaten bei der Wahrung ihrer sozialen Rechte unterstützen.[9] Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 i. V. m. ihrer Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 regeln die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa. Diese Verordnung (EG) 883/2004 bezieht nunmehr auch alle wirtschaftlich nichtaktiven Personen mit ein. Die Regelungen betreffen besonders Personen, die in mehreren Mitgliedstaaten beschäftigt sind bzw. beschäftigt gewesen sind oder die in einem anderen als dem für sie zuständigen Mitgliedstaat wohnen oder sich dort zeitweise aufhalten.[10]
Auf europäischer Ebene sind die unterschiedlichen Sozialsysteme nicht vereinheitlicht, sondern werden lediglich miteinander koordiniert. So werden Leistungen der sozialen Sicherheit teilweise auch dann vom Herkunftsstaat geleistet, wenn die betreffende Person in einem anderen Staat wohnt. Im Gegensatz hierzu werden besondere beitragsunabhängige Geldleistungen ausschließlich vom Wohnortstaat an anspruchsberechtigte Einwohner erbracht.[9]
Ein EU-weites Sozialversicherungsregister ist nach Aussage des Bundestags vom Mai 2007 nicht geplant; ein Missbrauch der E-101-Bescheinigungen würde durch elektronische Abwicklung besser bekämpft werden können.[13]
Der Art. 141EGV (früher Art. 119 EWGV) bezieht sich auf an das gleiche Entgelt für Männer und Frauen und erfasst somit zwar beitragsfinanzierte Sicherungssysteme (insbesondere betriebliche Sicherungssysteme, da der Beitrag als Entgeltersatzleistung angesehen wird), nicht aber steuerlich finanzierte staatliche Systeme der Grundsicherung. Im Juli 2008 legte die Europäische Kommission einen Richtlinienentwurf (KOM 426) vor, der Diskriminierung unter anderem auch im Bereich der Sozialversicherung verhindern soll. Die bisherige Richtlinie 79/7/EWG zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit bietet bisher keinen Schutz vor mittelbarer Diskriminierung bezüglich staatlicher Systeme der sozialen Grundsicherung (Sozialhilfe und in Deutschland seit dem 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II).[14] Das in dieser Richtlinie enthaltene Diskriminierungsverbot greift nach Art. 3 Abs. 1 b Richtlinie 79/7/EWG nur dann bei einem System der Sozialhilfe, wenn es ein gesetzliches System zum Schutz gegen die Arbeitnehmerrisiken Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitsunfall, Berufskrankheit oder Arbeitslosigkeit „ergänzen oder ersetzen“ sollen.[15]
Auf internationaler Ebene bestehen mehrere Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation zur Sozialversicherung. Diese begründen nach ihrer Ratifizierung durch die hierfür zuständigen Stellen eines Mitgliedstaates rechtliche Verpflichtungen.
Bilaterale oder multilaterale zwischenstaatliche Abkommen über soziale Sicherheit sehen die Wahrung sozialer Rechte von Personen vor, die in zwei oder mehr Staaten erwerbstätig sind oder waren.[16] Am 11. Dezember 1953 wurden im Rahmen des Europarats vier Interimsabkommen geschlossen, die u. a. die Sozialversicherungen für Staatsangehörige der Vertragsstaaten koordinieren. Allerdings wurden darin Situationen, in denen Menschen in mehr als zwei Staaten gearbeitet haben, nicht ausreichend erfasst.[17][18] Das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation Nr. 157 („Übereinkommen über die Einrichtung eines internationalen Systems zur Wahrung der Rechte in der Sozialen Sicherheit“) von 1982 sieht in Artikel 6 und 7 vor, dass Mitgliedstaaten sich bemühen, Sozialversicherungszeiten kumulativ anzurechnen, mit der Einschränkung, dass gleichzeitig erworbene Rechte nur einmal gezählt werden.[19]
↑Zum Entstehen der Bismarckschen Sozialversicherung vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur Kaiserlichen Sozialbotschaft (1867–1881), Band 2, 5 u. 6; Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, II. Abteilung: Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881–1890), 2. Band, Teil 1 u. 2; Band 5 u. 6.
↑Wolfgang J. Mommsen: "Der Staat kann die Sache in die Hand nehmen" – Bismarcks bahnbrechendes Werk und Waffe gegen die Sozialdemokratie, Frankfurter Rundschau 30. Juli 1998, S. 16
↑Wolfgang Ayaß: Der „Kreis der Versicherten“, in: Wolfgang Ayaß/ Wilfried Rudloff/ Florian Tennstedt: Sozialstaat im Werden. Band 2. Schlaglichter auf Grundfragen, Stuttgart 2021, ISBN 9783515130073, S. 106–132.
↑ abZwischenstaatliche Sozialversicherung. Bundesministerium für Soziales und Konsumentenschutz, Österreich, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 14. November 2008; abgerufen am 17. Januar 2009.Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bmsk.gv.at
↑Hans Wiebringhaus: Die Sozialversicherung im Rahmen der Funktionen, der Möglichkeiten, und der sozialpolitischen Vorhaben des Europarats. In: Peter A. Köhler, Hans Friedrich Zacher: Beiträge zu Geschichte und aktueller Situation der Sozialversicherung, Duncker & Humblot, ISBN 978-3-428-45294-1, S. 507 ff. S. 510–512.