Die tungusischen Sprachen (auch: mandschu-tungusische Sprachen) sind eine Sprachfamilie von zwölf relativ eng verwandten Sprachen, die von etwa 75.000 Sprechern in Nordchina, ostsibirischen Gebieten Russlands und Teilen der Mongolei gesprochen werden.
Die Hypothese einer Zugehörigkeit des Tungusischen zu den altaischen Sprachen, außer im Rahmen eines Sprachbundes, hat fast nur noch historische Bedeutung.[1]
Die meisten Linguisten nehmen an, dass die tungusischen Sprachen ihren Ursprung im nordöstlichen China haben. So lokalisieren Juha Janhunen und Pevnov (2012) als Urheimat des Tungusischen die Mandschurei beziehungsweise den Fluss Amur.[2] Manche wiederum vermuten die Urheimat südöstlich des Baikalsees.[3]
Klassifikation
Anhand lexikalischer und grammatischer Untersuchungen lassen sich die tungusischen Sprachen in die drei Gruppen Nord-Tungusisch (eigentlich Tungusisch), Südost-Tungusisch (Amur-Sprachen) und Südwest-Tungusisch (Mandschu-Sprachen) einteilen. Genauere Untersuchungen zeigten zudem, dass die beiden letzteren Gruppen enger verwandt sind. Insgesamt ergibt sich folgende Klassifikation:
Jurchenisch (Juchenisch, Ruzhenisch, Nuchen, Nüzhen) † (früher von den Ruzhen gesprochen)
Geographische Verbreitung
Die Anzahl und Benennung der Einzelsprachen variiert je nach Standpunkt der jeweiligen Wissenschaftler. Die Definition von relativ nahe verwandten Varianten (also Dialekten) als Sprachen folgt in einigen Fällen politischen Vorgaben. Alle tungusischen Sprachen sind vom Aussterben bedroht oder zumindest gefährdet.
Übersicht
Tungusische Sprachen – geographische Verteilung
Sprache / Gruppe
Sprecher
Geographische Verbreitung
Nord-Tungusisch (Tungus)
Ewenisch
7.500
Russland: Jakutien, Kamtschatka
Ewenkisch-Solonisch
30.000
Russland: AK Ewenken, Sachalin „Ewenki“ 10 Tsd. China: Innere Mongolei, auch Mandschurei „Solon“ 20 Tsd.
Negidalisch
200
Russland: Amurgebiet, Chabarowsk
Südost-Tungusisch (Amur)
Nanaiisch
6.000
Russland: Amur-Ussuri, Chabarowsk Krai
Ultschisch
1.000
Russland: Chabarowsk Krai, Ultsch-Region
Orokisch
100
Russland: Sachalin
Udiheisch
100
Russland: Chabarowsk Krai
Orotschisch
100
Russland: Chabarowsk Krai
Südwest-Tungusisch (Mandschu)
Mandschurisch
100
China: Mandschurei (ethn. mehrere Mio.)
Xibenisch
30.000
China: Xingjiang, Ili-Gebiet (ethn. 170 Tsd.)
Jurchenisch
†
China: früher Mandschurei, Nordchina
Nordtungusisch (Tungusisch i. e. S.)
Das Ewenische (alte Bezeichnung: „Lamutisch“) ist in Nordost-Sibirien in Jakutien und auf der Kamtschatka-Halbinsel verbreitet.
In vielen Teilen Sibiriens, einigen Regionen der Mongolei und im äußersten Nordosten der Volksrepublik China wird die ewenkische Sprache gebraucht. Es ist das Tungusische im engeren Sinne. Ewenkisch weist viele regionale Varianten auf, die in Sibirien, vor allem auf Sachalin, von etwa 10 Tsd. Menschen gesprochen werden. In China werden drei Dialekte des Ewenkischen unterschieden, das „Solonische“ mit knapp 20.000 Sprechern, das „Bargu-Ewenkische“ mit ca. 3.000 Sprechern und das „Olguya-Ewenkische“ mit ca. 150 Sprechern. Fast alle Sprecher leben im Verwaltungsgebiet der Stadt Hulun Buir der Inneren Mongolei, nur etwa 2.000 Sprecher des solonischen Ewenkisch leben im angrenzenden Qiqihar in der Provinz Heilongjiang. (Früher wurden diese Dialekte des Ewenkischen als separate Sprachen betrachtet.)
Zu dieser Gruppe gehört sprachlich auch das Negidalische, das noch von rund 200 Personen am Amur-Unterlauf gesprochen wird (geographisch eine Amur-Sprache).
Südost-Tungusisch: Amur-Sprachen
In den zu Russland gehörenden Regionen am Unterlauf des Amur (Chabarowsk Krai) werden folgende tungusische Sprachen gesprochen: Nanaiisch (Goldisch, Hezhenisch), Ultschisch, Orokisch, Orotschisch und Udiheisch. Das Negidalische, das auch am Amur gesprochen wird, gehört linguistisch zu den nordtungusischen Sprachen. Sie haben zusammen nur sieben- bis achttausend Sprecher.
Südwest-Tungusisch: Mandschu-Sprachen
In der Mandschurei wird noch in zwei Dörfern die mandschurische Sprache (Mandschu) von weniger als 100 Personen gesprochen. Die übergroße Mehrheit der über 10 Millionen Mandschu der Volksrepublik China sprechen heute Varianten der chinesischen Sprache. Die mandschurische Sprache war eine der Amtssprachen der tungusisch-mandschurischen Qing-Dynastie (1644–1911). Das Xibenische, das sich aus dem Mandschurischen entwickelt hat, ist heute in Xinjiang im Ili-Gebiet, vor allem in Qapqal, verbreitet (rund 30.000 Sprecher).
Die Südwest-Tungusischen Sprachen weisen im Gegensatz zu den anderen Tungusischen Sprachen einen hohen Anteil an koreanischen Lehnwörtern auf, was auf einen Einfluss des Koreanischen auf die Jurchen und frühen Mandschu hindeutet.[4][5]
Schriftsprachen
Am weitesten verbreitete tungusische Schrift- und Literatursprache war das Mandschu, für das als Offizialsprache der chinesischen Mandschu-Dynastie im 17. Jahrhundert – basierend auf mongolischen Vorbildern – eine Schrift geschaffen wurde, in der es auch eine nennenswerte Literatur gibt.
Bereits die Sprache der Vorläufer der Mandschus, der Jurchen, wurde aber in einer eigenen Schrift basierend auf der Schrift der protomongolischen Chitan offiziell in der nordchinesischen Jin-Dynastie verwendet. Deren Territorium wurde dann wie dasjenige der chinesischen Song-Dynastie von den Mongolen erobert. In dieser Sprache wurden auch Reste von Manuskripten und Inschriften gefunden und einzelne Wörter werden in chinesischen Chroniken aus der damaligen Zeit überliefert.
1931 bekamen das Ewenkische, Ewenische und Nanaiische in der Sowjetunion die lateinische Schrift, kurz danach 1936/37 wurden sie kyrillisch verschriftet.
Die Xibe verwenden noch heute ihre eigene xibenische Schrift, eine geringfügige Abwandlung der mandschurischen Schrift.
„Tatarisch“ und Tungusisch
Im Russischen wurden einige tungusische Sprachen – wie viele andere sibirische Sprachen auch – „tatarisch“ genannt, ohne dass sie mit der heute Tatarisch genannten Turksprache enger verwandt sind.
Tungusische Etymologien (Wortgleichungen)
Einen Blick auf Wortgleichungen des tungusischen Grundwortschatzes bietet die folgende Tabelle. Sie zeigt, dass die tungusischen Sprachen eng verwandt sind, lässt aber auch die Hauptgruppierungen in Nord (Ewen-Ewenki-Negidal), Südost (Amur-Sprachen) und Südwest (Mandschu-Juchen) erkennen.
Bedeutung
Proto- Tungus.
Evenki
Even
Negidal
Manchu
Jurchen
Ulcha
Orok
Nanai
Oroch
Udihe
Mutter; Frau
*eni
enin
enin
enin
enen
enin
en-
enin
enin
eni
enin
Schwester (ält.)
*eke(n)
ekin
ekın
exe
xexə
xexe
eqte
ekte
ekte
eki
exi
Bruder (ält.)
*aka
aka
aqa
aga
xaxa
xaxa
aGa
aka
.
aka
aga'
Schwiegertochter
*bener
bener
benır
bene
.
.
bener
.
bener
bene
bene
Brust; Herz
*(k)ukun
ukun
ökın
öxön
oxo
.
kukun
qun
kun
okon
.
Nase
*xoŋa
oŋokto
oŋıt
oŋokto
xoŋqo
.
xoŋqo
.
qoŋkto-
xoŋko
.
Sehne, Faden
*sire(kte)
sirekte
siren
sijen
sirge
.
sirekte
sirekte
sirikte
sijekte
siekte
Auge
*(n)iasa
esa
äsıl
esa
jasa
ŋiaci
isal
isal
nisal
isa
jehä (?)
Hand, Pfote
*mana
mana
mana
mana
.
.
mana
.
maja
manaka
mane
Wasser
*mu(ke)
mu
mo
mu
muke
mo
mu
mu
muke
mu
mu
Fels
*kada(r)
kadar
qadar
kada
xada
.
qadali
qada
qadar
kada
kada
Eis
*djuke
djuke
djök
djuxe
djuxe
djuxe
djue
duke
djuke
djuke
judge
3
*ilan
ilan
ilın
ilan
ilan
jilan
ilan
ilan
ilaŋ
ilan
ilan
4
*dügin
diγi
diγi
diγi
duju
dujin
duin
djin
duin
di
di
5
*tuŋa
tuŋa
tunŋın
tuŋna
sunja
cunja
tunja
tunda
tojŋa
tuŋa
tuŋa
7
*nadan
nadan
nadın
nadan
nadan
nadan
nadan
nadan
nadaŋ
nadan
nadan
Sprachliche Eigenschaften
Typologisch weisen die tungusischen Sprachen große Ähnlichkeit mit den beiden anderen Gruppen der altaischen Sprachen (Türkisch und Mongolisch) auf. Diese Merkmale sind also weitgehend gemeinaltaisch und finden sich zum Teil auch bei uralischen und paläosibirischen Sprachen (siehe altaische Sprachen).
Die wichtigsten typologischen Charakteristika der tungusischen Sprachen sind:
Vokalharmonie zwischen letztem Vokal des Stamms und folgendem Suffix, die auf verschiedenen Vokaloppositionen beruht.
Eine weitgehend agglutinative Wortbildung und Flexion, und zwar nahezu ausschließlich durch Suffixe. Jedes Morphem hat eine spezifische Bedeutung und grammatische Funktion und ist – abgesehen von den Erfordernissen der Vokalharmonie – unveränderlich. Es gibt in den tungusischen Sprachen aber auch Ansätze von periphrastischen Bildungen (Flexion mit Hilfswörtern).
Bei der Nominalbildung gilt die Markerfolge PLURAL – KASUS – POSSESSIVUM, abweichend vom Turkischen und Mongolischen, vergleichbar mit dem Finnischen.
Adjektive werden nicht flektiert, sie zeigen keine Konkordanz mit ihrem Bestimmungswort.
Ebenso wie die mongolischen Sprachen besitzen auch die tungusischen das Konzept der Konverben, die als Ersatz für Nebensatzkonstruktionen verwendet werden. Generell werden Nebensätze nominalisiert und in den Hauptsatz als Satzteil eingebaut.
Die normale Abfolge im Satz ist SOV (Subjekt-Objekt-Verb).
Literatur
An, Jun 安俊 (1986): 赫哲语简志 Hezhe yu jianzhi (Kurze Darstellung des Hezhenischen). 北京 Beijing: 民族出版社 Minzu chubanshe (Nationalitätenverlag) August 1986. 1+2+105 S.
Benzing, Johannes (1955 a): Die tungusischen Sprachen: Versuch einer vergleichenden Grammatik. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1955, Nr. 11) Wiesbaden: Steiner.
Benzing, Johannes (1955 b): Lamutische Grammatik mit Bibliographie, Sprachproben und Glossar. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Veröffentlichungen der orientalischen Kommission, 6) Wiesbaden: Franz Steiner.
Castrén, Matthias A. (1856): Grundzüge einer tungusischen Sprachlehre. St. Petersburg [repr. Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1969].
Comrie, Bernard (1981): The languages of the Soviet Union. Cambridge: CUP.
Doerfer, G. / W. Hesche / H. Scheinhardt (1980): Lamutisches Wörterbuch. Wiesbaden: Harrassowitz.
Hauer, Erich (1952–1955): Handwörterbuch der Mandschusprache. Wiesbaden: Harrassowitz.
Masica, Colin P. (1976): Defining a linguistic area: South Asia. Chicago, IL / London: Chicago UP.
Nikolaeva, Irina & Maria Tolskaya (2001): A grammar of Udihe. (Mouton Grammar Library) Berlin / New York, NY: Mouton de Gruyter.
Ning, Jin (1993): Sibe-English Conversations. Wiesbaden: Harrassowitz.
Norman, Jerry (1978): A concise Manchu-English lexicon. Seattle, WA / London: Washington UP.
Ramsey, S. Robert (1987): The languages of China. Princeton.
Роббек, В.А. (1989): Язык эвенов березовки. Ленинград: Наука.
Schiefner: [Artikel], in: Bulletin der Petersburger Akademie. St. Petersburg 1859.
Sotavalta, Arvo A. (1978): Westlamutische Materialien. (Soumalais-Ugrilaisen Seuran Toimituksia, 168) Helsinki.
Stary, Giovanni (1990): Taschenwörterbuch Sibemandschurisch-Deutsch. Wiesbaden: Harrassowitz.
Wassilewitsch, Glafira M. ( Глафира Макарьевна Василевич): Эвенкийский язык (Die ewenkische Sprache). Гос. учеб.-пед. изд-во, Moskau, Leningrad 1933. 35 S.
Wassilewitsch, Glafira M. ( Глафира Макарьевна Василевич): Эвенкийско-русский (тунгусско-русский) диалектологический словарь : С прил. введения и карты распространения диалектов (Ewenkisch-Russisches (Tungusisch-Tussisches) dialektologisches Wörterbuch mit Karte der Verteilung der Dialekte). Учпедгиз, Leningrad 1934. 244 S.
Wassilewitsch, Glafira M. ( Глафира Макарьевна Василевич): Русско-эвенкийский (русско-тунгусский). Словарь : Около 20000 слов (Russisch-Ewenkisches (Russisch-Tungusisches) Wörterbuch: 20000 Wörter). Гос. изд-во иностр. и нац. словарей, Moskau 1948. 332 S.
↑Die beiden Sprachfamilien werden zuweilen als „transeurasische/makro-altaische Gruppierung“ zusammengefasst; Martine Robbeets: Hirse und Bohnen, Sprache und Gene: Die Herkunft und Verbreitung der transeurasischen Sprachen. Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, [1]
↑Martine Robbeets: Book Reviews 161 Andrej L. Malchukov and Lindsay J. Whaley (eds.), Recent advances in Tungusic linguistics (Turcologica 89). Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. vi + 277 pages, ISBN 978-3-447-06532-0, EUR 68. (PDF). Abgerufen am 25. November 2016.
↑Immanuel Ness: The Global Prehistory of Human Migration. John Wiley & Sons, 2014, ISBN 978-1-118-97058-4 (google.com [abgerufen am 3. September 2018]).
↑Alexander Vovin: Koreanic loanwords in Khitan and their importance in the decipherment of the latter. In: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae. Band70, Nr.2, Juni 2017, ISSN0001-6446, S.207–215, doi:10.1556/062.2017.70.2.4 (akademiai.com [abgerufen am 2. September 2018]).
↑Kishik Noh: Recent Research Trends on Jurchen-Manchu Studies in Korea. In: International Journal of Korean History. Band21, Nr.1, 28. Februar 2016, ISSN1598-2041, S.249–258, doi:10.22372/ijkh.2016.21.1.249 (khistory.org [abgerufen am 2. September 2018]).