Die Wiener Moderne entstand als Gegenströmung zum Naturalismus und wollte der in diesem vorherrschenden Maxime des naturgetreuen Abbildens realer Umstände die „Kunst um der Kunst willen“ (französischl’art pour l’art) entgegensetzen. Das Ergebnis war ein Stilkonglomerat, beeinflusst von vielfältigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Fin de Siècle in Europa. So waren bedeutende Zentren der Moderne Paris, Berlin, Sankt Petersburg und Mailand. Die internationale Entdeckung und Erforschung der Wiener Moderne begann in den 1970er Jahren.
Die konservativ-katholische Monarchie Österreich-Ungarn war unter Kaiser Franz Joseph I. in ihrer Hoch- und Endphase angelangt. Während die Industrialisierung vergleichsweise schleppend verlief, ein großer Verwaltungsapparat das Land überwölbte und sich die Nationalitätenkonflikte im Vielvölkerstaat zuspitzten, kam es in den Zentren des Reiches (Wien, Budapest, Prag, Triest, Zagreb etc.) zu intellektuellen Höchstleistungen bei der Entwicklung oft gegensätzlicher Grundsätze, Meinungen, Wissenschaftsansätze und Strömungen. Die Hauptstadt Wien, die um 1900 mehr als 2 Millionen Einwohner zählte, war dabei Schmelztiegel der mitteleuropäischen Kulturen, denn hier sammelte sich die wirtschaftliche und intellektuelle Hautevolee.
Im Milieu von konservativem Prunk und Fortschritt wendeten sich die Künstler, konträr zum Naturalismus, dem Inneren und der Psyche zu. Es kam zur Ich-Zergliederung. Ernst Mach bezeichnete das Ich als „unrettbar“. Der Zusammenhang von Ich und Gesellschaft, Ich und Welt, wurde nicht mehr rational begründet, sondern zeigte sich an den Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Verstand und Gefühl. Eine „Stimmung“ drückte für die Zeitgenossen oft mehr aus, als sich mit Begriffen sagen lässt.
Der Ideenimport erfolgte über direkte persönliche Beziehungen avantgardistisch engagierter Einzelner. Friedrich Nietzsche und Richard Wagner spielten eine wichtige Rolle im öffentlichen Diskurs. Der Literaturkritiker und Autor Hermann Bahr pendelte ständig zwischen Berlin und Wien und unterlag so selbst der permanenten Wandlung durch immer neuere Ideen. Er war zuerst Wagnerianer und Anhänger Bismarcks, danach Marxist, Naturalist, Symbolist, schließlich Expressionist und am Schluss konservativer Katholik. Ein entscheidendes Jahr für das Durchsetzen der neuen Ideen der Wiener Moderne (entgegen dem Historismus in Architektur und Literatur) war 1897 mit der Gründung der Wiener Secession. Der Architekt Adolf Loos blieb sein Leben lang beeindruckt und beeinflusst von seinem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von 1893 bis 1896, vor allem in Chicago und New York.
Philosophie, Psychologie und Sozial- bzw. Naturwissenschaften
Die Architektur prägten Otto Wagner und Adolf Loos. Otto Wagner verfasste eine Schrift mit dem Titel Moderne Architektur von 1895, in der er die Ära und Vorherrschaft des Historismus (insbesondere der Bauten der Wiener Ringstraße im neugriechischen, neurömischen und neubarocken Stil) für beendet erklärte. Den Begriff „Moderne“ kannte er noch nicht, er sprach lediglich von der notwendigen Anpassung der Architektur an den technischen Fortschritt.
Gotthart Wunberg (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Reclam, Stuttgart 1981, ISBN 3-15-027742-6. (Nachdruck 2000)
Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. Sammlung Metzler, Band 290, Realien zur Literatur. Metzler, Stuttgart 1995, ISBN 3-476-10290-4.[2]
Jacques Le Rider, Eva Werth (Übers.): Kein Tag ohne Schreiben. Tagebuchliteratur der Wiener Moderne. Passagen Orte des Gedächtnisses. Passagen-Verlag, Wien 2002, ISBN 3-85165-496-X.
Jacques Le Rider, Christian Winterhalter (Übers.): Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne. Passagen Philosophie. Passagen-Verlag, Wien 2004, ISBN 3-85165-636-9.
Mirko Gemmel: Die Kritische Wiener Moderne. Ethik und Ästhetik. Karl Kraus, Adolf Loos, Ludwig Wittgenstein. Parerga-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-937262-20-2.[3]
Helga Mitterbauer (Hrsg.), Katharina Scherke (Hrsg.): Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Studien zur Moderne, Band 22. Passagen-Verlag, Wien 2005, ISBN 3-85165-640-7.[4]
Barbara Tomandl: Die Bildung in der Gesellschaft der Wiener Moderne. Institutionen, Ideen und Zielsetzungen. Diplomarbeit. Universität Wien, Wien 2008.[5]
Georg Karner: Die Sehnsucht nach dem Spiegel. Gesellschaftsreflexion in und durch Kunst am Beispiel Narzissmus in Wien um 1900. IGEL Verlag Literatur & Wissenschaft, Hamburg 2019, ISBN 978-3-86815-738-3.
Alice Bolterauer: Thalia lächelt. Die Wiener Moderne und die Komödie. Praesens Verlag, Wien 2021, ISBN 978-3-7069-1121-4