Alfred Polgar wurde im 2. Wiener Bezirk, Leopoldstadt, als jüngstes von drei Kindern assimilierter Juden geboren. Die Eltern, Josef und Henriette Polak, geb. Steiner, betrieben eine Klavierschule. Nach Gymnasium und Handelsschule wurde Polgar 1895 Redakteur bei der Wiener Allgemeinen Zeitung, wo er anfangs als Gerichtsreporter und Parlamentsreporter arbeitete. Später war er dort Redakteur im Ressort Feuilleton. Zusätzlich schrieb Polgar für weitere Blätter, wie für die 1892 bis 1896 erschienene Zeitschrift Die Zukunft, ein sozialistisches Blatt mit anarchistischen Tendenzen.
Ab 1905 schrieb Polgar regelmäßig für Siegfried Jacobsohns Zeitschrift Die Schaubühne, seit 1918 Die Weltbühne, bis zu deren Verbot 1933. Daneben war er auch als Autor für das Kabarett tätig. Für das Cabaret Fledermaus schrieb er zusammen mit Egon Friedell das erfolgreiche humoristische Stück Goethe. Eine Groteske in zwei Bildern (1908), in dem der Literaturunterricht an den Schulen dadurch parodiert wird, dass Johann Wolfgang von Goethe zu einem Literaturexamen über Goethes Leben und Werk erscheint – und durchfällt. 1908 erschien Polgars erstes Buch Der Quell des Übels. Der Ort, an dem Polgar zu dieser Zeit am häufigsten verkehrte, war das Café Central, in dem er in Gesellschaft von Peter Altenberg, Anton Kuh, Adolf Loos und Egon Friedell anzutreffen war und viel Material für seine scharfsinnigen Beobachtungen und Analysen fand. Auch von später sehr bekannten Schriftstellern wie Karl Kraus erntete er Zuspruch.
Polgar betätigte sich auch als Bearbeiter und Übersetzer von Theaterstücken, etwa von Nestroy, und übersetzte 1913 Ferenc Molnárs Stück Liliom aus dem Ungarischen ins Deutsche. Er verlegte die Handlung in den Wiener Prater und fügte einen Prolog hinzu, was dem bis dahin erfolglosen Stück mit einer triumphalen Premiere am 28. Februar 1913 im Theater in der Josefstadt in Wien den Weg zum Welterfolg ebnete.
Am 23. September 1914 ließ er seinen Namen offiziell von Polak auf Polgar ändern[1] (ungar. polgár = dt. Bürger).
Nach Kriegsende wurde er bei der Zeitung Der Neue Tag Chef des Feuilletons. Er arbeitete auch an Stefan GroßmannsDas Tage-Buch mit. Gemeinsam mit Egon Friedell schrieb er ab 1921 das Böse Buben Journal. In den 1920er Jahren lebte Polgar überwiegend in Berlin. Viele Artikel von ihm erschienen in dieser Zeit im Berliner Tageblatt und im Prager Tagblatt. Im Oktober 1929 heiratete er die Wienerin Elise Loewy, geb. Müller.
Nach der Machtergreifung des NS-Regimes war für den „österreichischen Juden und linksliberalen Antifaschisten Polgar im nationalsozialistischen Deutschland kein Platz“.[3] Anfang März 1933 flüchtete er nach Prag. Am 10. Mai 1933 wurden seine Bücher verbrannt. Später ging er nach Wien. 1937/38 schrieb er über Marlene Dietrich; Ulrich Weinzierl fand den Text 1984 in New York, gedruckt ist er 2015 erschienen.
Beim „Anschluss Österreichs“ im März 1938 waren Polgar und seine Frau gerade in Zürich. Weil er dort keine Arbeitserlaubnis erhielt, flüchteten sie nach Paris.[4] Dort schloss er sich der Liga für das geistige Österreich (Ligue de l’Autriche Vivante) an, der auch Fritz Brügel, Gina Kaus, E. A. Rheinhardt, Joseph Roth und Franz Werfel angehörten.
1949 kehrten sie nach Europa zurück und ließen sich in Zürich nieder, und Polgar publizierte auch wieder für deutschsprachige Zeitungen. Er wurde auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich begraben.
1965 wurde die Polgarstraße im 22. Wiener Gemeindebezirk, Donaustadt, nach ihm benannt.[3]
Die in dieser Straße gelegene Schule (Bundesgymnasium, Bundesrealgymnasium, Bundesoberstufenrealgymnasium) erhielt den Namen Polgargymnasium.
Zitat
"Es mag schon stimmen, dass es für den Menschen das Beste wäre, nicht geboren zu sein, aber wem passiert das schon?"[6]
Rezeption
„Er begnügte sich damit, 'das Spiel des Lebens zu betrachten, den Spielern in die gezinkten Karten zu schauen und das Geschaute in Worte kurzzufassen'. Selten ist das Nebensächliche, Schwebende, Unscheinbare so präzise und mühelos artikuliert worden wie hier. Polgar hat die Kunst der Nuance zu hoher Meisterschaft gebracht.“
„Mit Ausnahme des alten Fontane weiß ich keinen Theaterkritiker deutscher Sprache, der so aufs Augenhärchen genau sagen kann, was er sagen will. So haben Sie einmal das größte Kunststück fertiggebracht, der alternden Duse zu sagen, daß sie altert, aber daß sie die Duse ist;...“
Lieber Freund! Lebenszeichen aus der Fremde. Zsolnay, Wien, Hamburg 1981.
Kleine Schriften. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Weinzierl, Rowohlt, Reinbek 1982–1986.
Lizenzausgabe, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a. M., 1983 bis 1988. Aufzählung der sechs einzeln erschienenen Bände: Musterung, Kreislauf, Irrlicht, Literatur, Theater I, Theater II.
Eva Philippoff: Alfred Polgar. Ein moralischer Chronist seiner Zeit. Minerva, München 1980, ISBN 3-597-10250-6.
Ursula Madrasch-Groschopp: Die Weltbühne. Porträt einer Zeitschrift. Buchverlag Der Morgen, Berlin 1983
Ulrich Weinzierl: Alfred Polgar. Eine Biographie. Löcker, Wien 1985. Diverse Neuausgaben, 2005 wieder Löcker Wien, ISBN 3-85409-423-X. (ersetzte Weinzierls Werk Er war Zeuge. Alfred Polgar. Ein Leben zwischen Publizistik und Literatur, Löcker & Wögenstein, Wien 1978, ISBN 3-85392-018-7)
Marcel Reich-Ranicki: Alfred Polgar – Der leise Meister. In: Die Anwälte der Literatur. DVA, Stuttgart 1994. Als Tb dtv, München 1996, S. 167–185.
Pino Dietiker: Entlegene Nachbarn. Die Exilübersetzer Alfred Polgar und Ferdinand Hardekopf und ihr Helfer Carl Seelig, in: Stefanie Kremmel, Julia Richter, Larisa Schippel (Hrsg.): Translation und Exil (1933–1945) III. Motive, Funktionen und Wirkungen, Berlin 2024, S. 261–290.
Lexikaeinträge
Polgar, Alfred. In: Kurt Böttcher (Gesamtredaktion): Lexikon deutsch-sprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart. VEB Bib-liographisches Institut Leipzig, 1975; Band 2, S. 180/181
Herbert A. Straus, Werner Röder (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945. Band 2/I: A–K. Saur, München 1983, ISBN 3-598-10089-2, S. 915.
↑Wolfgang U. Eckart: Der hungrige Krieg. Verletzte Seelen, mit e. Zsfss. in engl. Sprache, in: Universität Heidelberg: Ruperto Carola, 4(2014) S. 76–83, Online Ressource