Lukas Bärfuss arbeitete nach neun Jahren Primarschule unter anderem als Tabakbauer, Eisenleger, Gabelstaplerfahrer und Gärtner.[1] Zwischen seinem 16. und 20. Lebensjahr war er mehrfach obdachlos und lernte, «was es heisst, arm zu sein in einem Land, in dem es Armut eigentlich nicht geben sollte».[2] Nach der Rekrutenschule war er als Buchhändler in Bern tätig sowie später in einer kollektiv geführten Buchhandlung in Fribourg. Parallel dazu holte er sein Buchhändler-Diplom nach.
Seit 1997 arbeitet Bärfuss als freier Schriftsteller.[3] Er wurde vielfältig ausgezeichnet; 2019 erhielt er den renommierten Georg-Büchner-Preis. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung bezeichnete sein Werk unter anderem als von «hoher Stilsicherheit und formalem Variationsreichtum»[4] durchzogen, das «stets neu und anders existentielle Grundsituationen des modernen Lebens» erkunde.[5] Er schreibt zudem Gastbeiträge für verschiedene, deutschsprachige Tageszeitungen, darunter auch für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung.
Zwischen 2009 und 2013 wirkte Bärfuss als Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, wo er bis heute verschiedene Gesprächsreihen moderiert. In der Reihe Weisse Flecken traf er zum Beispiel auf Ruth Durrer und Hugo Stamm. Bei den Zürcher Gesprächen waren seine Gesprächspartner Ulrike Guerot, David Chipperfield und andere. 2023 kuratiert Bärfuss das Forum beim Literaturfest München.[6]
Bärfuss lebt in Zürich. Er ist Vater einer Tochter und eines Sohnes.[11]
Theaterarbeit
Bärfuss war Mitgründer der Künstlergruppe «400asa» und arbeitete dort mit dem Regisseur Samuel Schwarz zusammen. Er schrieb für die Gruppe mehrere Bühnenwerke, etwa die GroteskeMeienbergs Tod über den 1993 verstorbenen Journalisten und Schriftsteller Niklaus Meienberg und die Heucheleien des Kulturbetriebs, mit denen er im Jahr 2001 bekannt wurde.[12] Bärfuss gelang mit diesem Stück, das auch ein Stück über das Theater ist, der Anschluss an grosse dramatische Traditionen. Besonderen Erfolg hatte er mit dem Stück Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, geschrieben für das Theater Basel, das bis 2005 in zwölf Sprachen übersetzt wurde.[13] Es wurde 2003 mit dem Buchpreis des Kantons Bern ausgezeichnet und war für die Zeitschrift Theater heute Anlass, Bärfuss zum Nachwuchsautor des Jahres zu ernennen.
2015 kam eine Verfilmung (Regie: Stina Werenfels) unter dem Titel Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern mit Victoria Schulz und Lars Eidinger in die Kinos. 2005 feierte dann das Auftragswerk Der Bus (Das Zeug einer Heiligen) am Thalia Theater Hamburg in einer Inszenierung von Stephan Kimmig Uraufführung. Für Der Bus wurde Bärfuss der Mülheimer Dramatikerpreis 2005 verliehen. Im selben Jahr beschäftigte er sich in Alice Reise in die Schweiz. Szenen aus dem Leben des Sterbehelfers Gustav Strom mit der Praxis der Sterbehilfe, indem er den Leidenserlösungsweg einer zum Tod entschlossenen Frau nachzeichnet. Das Stück wurde in einer Inszenierung von Stephan Müller am Theater Basel uraufgeführt.
2009 hatte sein Drama Öl über die Abhängigkeit von dem wichtigsten Rohstoff des Industriezeitalters am Deutschen Theater Berlin Uraufführung. 2010 wurde sein Theaterstück Malaga in einer Inszenierung von Barbara Frey am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt.[14] In Zwanzigtausend Seiten befasst er sich mit der Zurückweisung der Naziverfolgten an der Schweizer Grenze. Das Stück hatte am 2. Februar 2012 im «Schiffbau/Box» des Schauspielhauses Zürich Premiere in einer Inszenierung von Lars-Ole Walburg – unter seiner Regie wurde 2007 auch Bärfuss’ Stück Die Probe in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt.[15] In der Schweiz wurde Zwanzigtausend Seiten wegen seiner Kritik an der schweizerischen Verdrängung der Mitschuld am Holocaust überwiegend negativ aufgenommen.
Frau Schmitz, ebenfalls von Barbara Frey inszeniert, wurde erstmals 2016 im Schauspielhaus Zürich gezeigt, eine Groteske über einen Transsexuellen. 2018 wurde die Auftragsarbeit Der Elefantengeist am Nationaltheater Mannheim (Regie: Sandra Strunz) uraufgeführt. Das Werk ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem «Kanzler der Einheit» Helmut Kohl. 2016 übernahm Bärfuss als Autor die künstlerische Leitung des Einsiedler Welttheaters,[16] seine Neubearbeitung des Werkes hatte – ursprünglich für 2020 geplant, jedoch pandemiebedingt verschoben – im Juni 2024 Premiere.[17]
In seinem zweiten Roman Koala beschäftigt er sich mit dem Suizid seines Bruders und verknüpft mit diesem Thema seine eigene Familiengeschichte mit der KolonialgeschichteAustraliens.[20] Für diesen Roman wurde Bärfuss 2014 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. In seinem 2017 erschienenen Roman Hagard thematisiert er die Obsession eines Mannes, dessen «Stadt-Odyssee»[21] er für eine kritische Beschreibung der Gegenwart nutzt. Hagard stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017.[22]
Durch seine Essaybände Stil und Moral (2015) sowie Krieg und Liebe (2018) wurde Bärfuss in der Öffentlichkeit auch zunehmend als Essayist wahrgenommen. Mit Contact erfolgte 2018 seine erste englischsprachige Lyrikveröffentlichung. Das Buch entstand in Kollaboration mit dem Schweizer Künstler Michael Günzburger und thematisiert das Verhältnis des Menschen zum Tier.
Bärfuss’ Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter Türkisch, Bulgarisch und Chinesisch. Seit Kurzem tritt Bärfuss selbst als Übersetzer in Erscheinung. So übertrug er 2016 gemeinsam mit der Schriftstellerin Muriel Pic die Literaturbriefe von Walter Benjamin ins Französische. Auch Pics jüngster Gedichtband Élegies documentaires wurde 2019 von Bärfuss ins Deutsche übertragen.
Kontroversen
Bärfuss knüpft mit seinen Stücken, Romanen und Essays an politische Diskurse an. Er tritt in verschiedenen Formaten als scharfer Kritiker der nationalkonservativen und wirtschaftsliberalen Politik der Schweiz in Erscheinung. Die mediale Öffentlichkeit bewertet Bärfuss’ Rolle als «Provokateur»[23] unterschiedlich. Während ihn die einen für seine pointierten Essays und Debattenbeiträge zum politischen Geschehen loben und ihn als neuen Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt bezeichnen,[24] werten andere seine Äusserungen als die eines Linksintellektuellen ab, der sich nur oberflächlich mit seinen Themen auseinandersetzt.
Im Oktober 2015 löste Bärfuss in der Schweiz eine kontroverse Diskussion aus, als er drei Tage vor der dortigen Parlamentswahl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Essay zum Thema Die Schweiz ist des Wahnsinns veröffentlichte, worin er eine Fundamentalkritik am politischen, sozioökonomischen und kulturellen Zustand seines Heimatlandes übte.[25]
Auf grosse Empörung stiess seine Kritik an den Schweizer Medienhäusern. Bärfuss wirft diesen vor, Rechtspopulisten wie dem Milliardär Christoph Blocher ihre Stimme verkauft und auf diese Weise zur Verrohung der Diskurslandschaft beigetragen zu haben. Er diagnostiziert:
«Als Schweizer hat man in der globalisierten Welt nichts mehr zu sagen. Gefühle der Ohnmacht werden gerne mit großen Worten kompensiert. Und wenn große Worte nicht mehr reichen, nimmt man eben unanständige.»
Die Reaktionen der Schweizer Presse auf Bärfuss’ Essay waren überwiegend negativ. Während die Berner Zeitung den Rundumschlag noch mild mit «Provozierende Polemik»[26] kommentierte, zeigte der Tages-Anzeiger Unverständnis für das «undifferenzierte Zerzausen von allem und jedem»[27]. Mit Kritik zurück hielt sich anfänglich die Neue Zürcher Zeitung. Doch in einem offenen Brief und in der Stimme ihres Feuilleton-Chefredakteurs René Scheu warf sie dem Autor übertriebenen Moralismus und Kleingeistigkeit vor.[28]
2017 sorgte Bärfuss erneut für Diskussionen. In einem Essay in der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte er den Schweizer Buchpreis für tot und forderte einen Neustart.
Bärfuss bemängelte die fehlende Unabhängigkeit der Jury und kritisierte das Eingreifen von Verbandsfunktionären bei Nominierungsverfahren.[29] Die Veranstalter zeigten sich einsichtig. Gemeinsam mit der Schriftstellerin und Schweizer Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji setzte Bärfuss die Ausarbeitung eines Reglements durch.
Werke
Prosa
Die toten Männer. Novelle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-12306-8.
Sophokles’ Ödipus. Uraufführung: Zürich, Escher-Wyss-Unterführung, 27. August 1998. Regie: Samuel Schwarz.
Siebzehn Uhr Siebzehn. Uraufführung: Schauspiel Akademie Theater, Zürich, 12. Januar 2000. Regie: Samuel Schwarz.
74 Sekunden. Monolog. Uraufführung: Zürich, im Blauen Saal, 8. März 2000. Regie: Lukas Schmocker.
Vier Frauen. Singspiel. Uraufführung: Schlachthaus Theater Bern, 25. Mai 2000. Regie: Samuel Schwarz.
Medeää. 214 Bildbeschreibungen. Radiokulturhaus Wien im Rahmen der Wiener Festwochen, Juni 2000. Regie: Samuel Schwarz.
Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde. Auftragswerk für das Schauspielhaus Bochum. Uraufführung: Schauspielhaus Bochum, 12. Januar 2001.[32] Regie: Samuel Schwarz.
Meienbergs Tod. Groteske. Auftragswerk für das Theater Basel. Uraufführung: Theater Basel, 20. April 2001. Regie: Samuel Schwarz.
Othello. Kurze Fassung. Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Dezember 2001. Regie: Samuel Schwarz.
August02, Nationalulk. Landesausstellung Expo.02 am 1. August 2002 auf der Hauptbühne der Arteplage Biel-Bienne. Regie: Samuel Schwarz.
Vier Bilder der Liebe. Uraufführung: Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele, 28. September 2002.[33] Regie: Karin Henkel.
In Druckform: Malaga – Parzival – Zwanzigtausend Seiten. Stücke. Wallstein, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-1100-8.
Die schwarze Halle. Uraufführung: Im Rahmen von Arm und Reich. Schlaglichter auf die Ungleichheit zus. mit Nabokovs Tintenklecks von Michail Schischkin und Rechne von Händl Klaus, Schauspielhaus Zürich, 4. Mai 2013. Regie: Barbara Frey.
Anschlag. Musiktheater von Michael Wertmüller, Text: Lukas Bärfuss. Lucerne Festival, August 2013.
Rebekka ist nicht da. Det Norske Teatret, Oslo, Februar 2016. Regie: Erik Ulfsby
Frau Schmitz. Uraufführung: Schauspielhaus Zürich, 22. Oktober 2016. Regie: Barbara Frey.
Der Elefantengeist. Uraufführung: Nationaltheater Mannheim, 29. September 2018. Regie: Sandra Strunz
Julien – Rot und Schwarz. Uraufführung: Theater Basel, 16. Januar 2020. Regie: Nora Schlocker
Marie Gunreben, Friedhelm Marx (Hrsg.): Handlungsmuster der Gegenwart. Beiträge zum Werk von Lukas Bärfuss. In: Literatur und Gegenwart. Band 1. Königshausen & Neumann, Würzburg 2017.
Tom Kindt, Victor Lindblom (Hrsg.): Text+Kritik: Lukas Bärfuss. Heft 227. Edition Text+Kritik, München 2020, ISBN 978-3-96707-110-8
↑Das Leben als Treibjagd: Sternstunde Philosophie. 5. Mai 2014 (youtube.com [abgerufen am 13. Juli 2018]).
↑Die Leiche ist nicht tot. In: NZZ. 22. April 2001, ISSN0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 26. Juli 2019]).
↑Erfahrungen haltbar machen. In: NZZ. 20. Juni 2005 (nzz.ch [abgerufen am 26. Juli 2019]).
↑Rico Bandle: Mutter vergnügt sich, Vater arbeitet, Kind verunglückt. In: Tages-Anzeiger. 5. Oktober 2010, ISSN1422-9994 (tagesanzeiger.ch [abgerufen am 26. Juli 2019]).
↑Leiden eines Gedächtniskünstlers. In: FAZ. 4. Februar 2012, S.35.